Rolls-Royce-Samba für den starken Staat

Während Brasiliens neuer sozialdemokratischer Präsident Cardoso mit Pomp sein Amt übernimmt, umzingeln Panzer Rios Elendsviertel / Priorität: Steuern für Reformen eintreiben  ■ Aus Rio Astrid Prange

Nach fünf Jahren politischem Zickzackkurs bekommt Brasilien zum Neujahrstag ein neues Staatsoberhaupt: Fernando Henrique Cardoso. Der 63jährige Ex-Soziologe löst Itamar Franco ab, den einstigen Vizepräsidenten von Fernando Collor de Mello, der nach dessen Amtsenthebung wegen Korruption im Dezember 1992 vorübergehend die Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Wie bei Ex-Präsident Collor liegt auch beim frisch gekürten Cardoso die politische Priorität bei der Bekämpfung von Brasiliens hartnäckiger Inflation.

Cardosos Ausgangslage ist günstig. Seit der von ihm entworfenen Währungsreform im vergangenen Juni ist die monatliche Teuerungsrate in Brasilien von 30 auf rund drei Prozent geschrumpft. Das brasilianische Bruttosozialprodukt in Höhe von 450 Milliarden US-Dollar wuchs 1994 voraussichtlich um fünf Prozent und die Landwirtschaft verzeichnete trotz überraschender Frosteinbrüche im brasilianischen Winter eine Rekordernte. Die Vereinigung des größten Landes Lateinamerikas mit Argentinien, Paraguay und Uruguay zum gemeinsamen Wirtschaftsmarkt „Mercosur“ zeitgleich mit Cardosos Regierungsantritt am 1. Januar zieht zudem ausländische Investoren an.

Die Herausforderung Cardosos besteht darin, die augenblickliche Welle allgemeiner Zuversicht in politische Fakten umzuwandeln. Denn trotz anhaltendem Wirtschaftswachstums hält Brasilien nach wie vor innerhalb Lateinamerikas den Negativrekord im Bereich der Einkommenskonzentration. Das ärmste Fünftel der 150 Millionen Brasilianer ist laut Weltbank am Bruttosozialprodukt der zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt gerade mit zwei Prozent beteiligt. Eine Analphabetenrate von 20 Prozent, grassierende Kinderarbeit und Korruption sowie krasse regionale Unterschiede gehören zur Problempalette dieses tropischen Landes mit subkontinentalen Ausmaßen.

Daß neoliberale Reformkonzepte allein bei der langfristigen Lösung dieser Probleme nicht immer hilfreich sind, beweist die jüngste Wirtschaftskrise in Mexiko. „Die Inflation in Lateinamerika mit einer aggressiven Importpolitik zu bekämpfen ist sinnlos“, kommentiert der brasilianische Ökonom Demian Fiocca das mexikanische Fiasko. Der Abbau der Zollschranken habe den mexikanischen Industriepark schwer angeschlagen, die Privatisierung von Staatsbetrieben die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben und die mangelnden Investitionen im Bereich Bildung die mexikanischen Arbeitskräfte konkurrenzunfähig gemacht. Um nicht als Neoliberaler abgestempelt zu werden, wird Brasiliens neuer Präsident Cardoso deshalb nicht müde, seine sozialdemokratischen Überzeugungen zu beteuern. „Die Idee, daß sich der Staat aus allem heraushalten muß, ist realitätsfern“, erklärte er jüngst vor der Presse. Er sei für einen „starken Staat“.

Dennoch markieren wie in Mexiko auch in Brasilien rigorose Klassenunterschiede die Gesellschaft. Wenn Fernando Henrique Cardoso am Sonntag in der Hauptstadt Brasilia mit einem Rolls- Royce in sein Amt eingeführt wird, werden in Rio de Janeiro Panzer mit schwerbewaffneten Soldaten weiter die Elendsviertel umzingeln, um die Kriminalität zu „bekämpfen“.

Brasilianische Politiker versichern hoch und heilig, daß Mexikos Wirtschaftskrise sich nicht negativ auf den Rest Lateinamerikas auswirken werde. Fest steht, daß sich die neue brasilianische Regieung für die überfälligen Investitionen in den Bereichen Gesundheit und Bildung sowie Renten- und Sozialversicherung um zusätzliche Einnahmequellen bemühen muß. Deshalb soll der Kongreß 1995 eine tiefgreifende Steuer- und Finanzreform verabschieden.

Nicht nur die Reform des brasilianischen Steuersystems, das „noch ungerechter ist als die bereits bestehende Vermögenskonzentration“, so der ehemalige oberste Steuereintreiber Osiris Lopes, steht bevor. Auch der Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden soll neu organisiert werden. Bei den Reformvorhaben, die eine Zweidrittelmehrheit im Kongreß erfordern, ist Cardoso auf die Zustimmung der hauptsächlich aus der linken „Arbeiterpartei“ bestehenden Opposition angewiesen. Solange die öffentlichen Ausgaben nicht durch zusätzliche Steuereinnahmen gedeckt werden, drohte der Soziologe den Abgeordneten der Linksparteien bereits, werde er auf die Privatisierung von Staatsbetrieben zurückgreifen, um kurzfristig Geld in die Kassen zu lenken.