piwik no script img

SanssouciVorschlag

■ Blick auf die Tankstellen bei Adrenalin-Niedrigstand

Damit keine Mißverständnisse entstehen: Ich habe kein Auto, und werde mir so schnell auch keines anschaffen. Es ist nämlich so: Ich hasse Autos. Trotzdem – heute, zum Jahreswechsel, ist der Augenblick gekommen, sich einmal ein paar Gedanken zu machen über das Abhängigkeitsverhältnis von Nervenkitzel und Kunstkritik.

Seit gut einem Jahr wohne ich an der Gneisenaustraße – Vorderhaus, wohlgemerkt. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und nach draußen schaue, fällt mein Blick auf eine Tankstelle. Tankstellen sind etwas ganz Besonderes. Ich habe einen Freund, der sich, obwohl er nicht einmal einen Führerschein hat, gar nicht sattsehen kann an Tankstellen. Streng geometrische, funktionale Architektur, Neonlicht, glänzender Asphalt: Stadt pur.

Meine Tankstelle ist ein ausgesprochen schönes Exemplar. Großzügig, modern, mit 16 Zapfsäulen, Waschanlage, allerlei sonstigem Schnickschnack und einem gut sortierten Kiosk. Wie oft habe ich davon profitiert und mich mit den kleinen Lebensnotwendigkeiten eingedeckt, während die Herren und Damen vom Supermarkt nebenan schon lang den Schlaf der Gerechten schliefen. Auch tagsüber herrscht hier reges Treiben, es ist ein stetes Kommen und Gehen. Nur einmal kehrt für kurze Zeit Ruhe ein. Das ist etwa gegen 22 Uhr abends, dann werden die Tausender gebündelt und verpackt. Ich bin informiert über meine Tankstelle.

An manchen Tagen zieht mich dieser Ort ganz in seinen Bann. Vor der Tankstelle verlaufen ein breiter Bürgersteig und, durch eine Baumreihe davon abgetrennt, ein Radweg. Wie es der Teufel will, ich hab's direkt vor Augen, ich sitze in der ersten Reihe. Die Aussicht auf eine frische Benzinfüllung macht die Menschen übermütig. Hochgezüchtete Boliden, gewagte, sämtliche Regeln der Schrittgeschwindigkeit mißachtende Rangiermanöver: ein Thriller. Wer zählt sie, die Beinahezusammenstöße? Die Situationen, in denen sich zufällig vorbeikommende, grundunschuldige, harmlose Passanten nur durch einen beherzten Sprung zur Seite vor dem sicheren „Autod“ retten konnten? Wer kennt die Vollbremsungen und Flüche der Radfahrer? Ich jedenfalls nicht, ich habe den Überblick längst verloren. Was ich aber weiß, ist dies: So eine Tankstelle vor der Nase ist unheimlich förderlich für die Konzentration. Für die Produktivität leider weniger. Deswegen habe ich den Monitor meines Schreibgerätes direkt vors Fenster gestellt – um mich zu disziplinieren. Jetzt sehe ich nur noch die Hälfte der Tankstelle – aber die brauche ich: fürs Adrenalin. Ulrich Clewing

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen