Die lange Rechte des Muhammad Ali

Ein vorwitziger Rückblick auf das spektakuläre und außerordentlich turbulente Sportjahr 1995  ■ Von Matti Lieske

München, 19. Januar: Die Gründung der „Michael-Stich-Stiftung“ zugunsten HIV-infizierter Kinder im letzten Dezember hat Boris Becker nicht ruhen lassen. Seitdem, so verraten enge Freunde der Familie, verspüre der Tennisspieler ebenfalls den unwiderstehlichen Drang, Gutes zu tun. Nach ausführlichen Beratungen mit seinem Anwalt, Berater, Manager, Freund und Inspirator, Dr. Axel Meyer-Wölden, wird die „Boris- Becker-Stiftung“ geboren, die sich ausschließlich „um das Wohlergehen notleidender Kinder von rothaarigen Tennisspielern, die mit 17 Wimbledon gewannen“, kümmern wird.

Hollywood, 30. Januar bis 5. Februar: Aufgrund des ungewöhnlichen Wärmeeinbruchs in Europa, Nordamerika und Asien ist an die in der Sierra Nevada geplante Ski- Weltmeisterschaft nicht zu denken. Die Idee, die WM unterhalb des Gipfels des Mount Everest – dem weltweit einzigen Ort mit Schnee – abzuhalten, wird fallengelassen, nachdem Greenpeace für diesen Fall angedroht hat, sich an Alberto Tomba zu ketten. In seiner Not beschließt der Internationale Skiverband (FIS) eine Premiere. Die Wettkämpfe werden als Virtual-Reality-WM in die Spielberg-Studios nach Hollywood verlegt. Sämtliche Männertitel gehen an Alberto Tomba.

Karlsruhe, 3. bis 5. Februar: Überraschend tritt Boris Becker zum Davis-Cup-Match gegen Kroatien an, nachdem sein Anwalt, Berater, Manager, Freund und Inspirator, Dr. Axel Meyer-Wölden, den Vertrag mit dem Deutschen Tennisbund (DTB) gerade noch rechtzeitig unter Dach und Fach gebracht hat. Danach erhält Becker für fünf Jahre 15 Millionen Mark und das Recht, sich bei Unpäßlichkeit durch Dr. Axel Meyer-Wölden vertreten zu lassen. Im ersten Match bekommt es Becker mit Goran Ivanisevic zu tun, der gerade einen zweimonatigen Kurs in der neuen Benimmschule der ATP absolviert hat und diesen mit der Note „sehr gut“ abschloß. Zur Begrüßung überreicht der Kroate seinem gerührten Gegner eine handsignierte Schachtel Pralinen sowie einen Strauß Blumen, und nach jedem As setzt er artig über das Netz, um sich per Handschlag zu entschuldigen. Beim 65. Handschlag fängt Becker im fünften Satz an zu weinen, rast zu seiner Bank, vertilgt auf einen Rutsch Pralinen samt Blumen, rennt aus der Halle und stürzt sich in den Wildpark. Den entscheidenden Punkt zum deutschen 3:2-Sieg holt Dr. Axel Meyer-Wölden, der Kroatiens Nummer zwei, Sascha Hirszon, nach zähen Verhandlungen mit 6:4, 6:3, 7:6 (10:8) besiegt.

Houston, 17. Februar: George Foreman (46), Box-Weltmeister im Schwergewicht, gibt endlich den Gegner für seine erste Titelverteidigung im April bekannt. Es handelt sich keineswegs um Axel Schulz, sondern um Ex-Weltmeister Muhammad Ali (53). „Mit dem habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen“, erklärt Foreman grinsend. Der Kampf soll aus Gründen der Tradition in Kinshasa stattfinden und ist auf drei Runden begrenzt, weil sich Ali, der an der Parkinsonschen Krankheit leidet, nicht länger wach halten kann.

Birmingham, 11. März: Mit einer Wildcard von CBS versehen, taucht Tonya Harding sensationell bei den Eiskunstlauf-Weltmeisterschaften auf. Nach dem Kurzprogramm belegt sie den sechsten Rang, sorgt jedoch dann mit ihrer neuen Kür für Furore. Gegenstand der Darbietung sind die Wirrungen einer aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Eiskunstläuferin, die, von unbändigem Ehrgeiz besessen, ihre Konkurrentinnen mit einer Eisenstange außer Gefecht setzt, am Ende aber eine wundersame Läuterung erfährt und ihre bewegte Karriere mit dem Weltmeistertitel krönt. Um eine höhere dramatische Wirkung zu erzielen, absolviert Harding ihre Kür bereits beim gemeinsamen Einlaufen mit den vor ihr plazierten Läuferinnen und erhält für ihre realistische Präsentation Höchstnoten sowie Ovationen des fairen englischen Publikums. Verdient wird sie Weltmeisterin und bekommt besonderen Beifall, als sie ihren Konkurrentinnen im Krankenhaus per Handy gute Besserung wünscht.

Zürich, 25 März: Überraschend gibt die FIS die WM-Disqualifikation von Alberto Tomba bekannt. Wochenlange komplizierte Untersuchungen von Spezialisten haben ergeben, daß der computer-versierte Tomba allen anderen Läufern einen Virus untergejubelt hatte, der ihre Tore um jeweils einen Meter nach außen versetzte und ihre Abfahrtsstrecke um 200 Meter verlängerte.

Kinshasa, 5. April: Durch einen zweiminütigen rechten Haken in der 3. Runde wird Muhammad Ali zum vierten Mal in seiner Karriere Box-Weltmeister im Schwergewicht. „Ich habe den Schlag nicht kommen sehen“, sagt der entthronte George Foreman, „für diesen Burschen bin ich einfach noch zu grün. Vielleicht probiere ich es in 25 Jahren noch einmal.“ Erster Kommentar von Ali nach dem Kampf: „Wo steckt eigentlich Joe Frazier?“

Oberelchingen, 15. April: Michael Jordan wird endlich ins Baseball- Team der Chicago White Sox berufen. Da jedoch die nächsten zehn Spielzeiten wegen des Arbeitskampfes abgesagt wurden und auch die NBA inzwischen streikt, heuert Jordan zunächst für einige Spiele beim SV Oberelchingen in der Basketball-Bundesliga an. Auf die Frage, warum gerade Oberelchingen, verrät der Chicagoer Restaurantbesitzer, daß er schon immer für die schwäbische Küche geschwärmt habe. In seinem ersten Play-off-Match gelingen Jordan beim 107:93-Sieg gegen Bayer Leverkusen alle Punkte für seinen Klub und aus Jux noch zehn für Leverkusen, danach unterschreibt der 32jährige einen Vertrag bis zum Jahr 2019, der ihm täglich einen Rostbraten mit Spätzle garantiert. „Das ist wohl der beste Rookie-Vertrag, den es je gegeben hat“, schmunzelt Jordan nach der Unterzeichnung des Kontraktes.

Paris, 25. Mai: Außer der Miguel Induráins ist noch keine einzige Meldung für die Tour de France 1995 eingegangen. Auch persönliche Einladungen an Tony Rominger („Glaubt ihr, ich mach euch wieder den Deppen?“), Gianni Bugno („Tschuldigung, ich habe eine Verabredung zum Kaffeetrinken“), Claudio Chiappucci („Der soll doch alleine fahren, macht er ja sowieso am liebsten“) und Greg LeMond („Mir ist schlecht“) bleiben fruchtlos, und selbst Induráins Team weigert sich anzutreten. Banesto-Chef José Miguel Echávarri: „Die Jungs sind demotiviert. Sie fühlen sich zu wenig gebraucht.“ Kurzerhand beschließen die Organisatoren, die Tour in diesem Jahr als Zweier-Zeitfahren mit Induráin und Rominger auf der Radrennbahn in Bordeaux auszutragen. „Natürlich sind die Pyrenäen landschaftlich schöner“, räumt Tour-Manager Bernard Hinault ein, „aber dafür können wir den Fernsehzuschauern Hochspannung in jeder der 22.354 Runden versprechen.“

Sofia, 7. Juni: Die 0:4-Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen Bulgarien kann DFB- Präsident Egidius Braun gerade noch verschmerzen, doch als ihm der dreifache Torschütze Hristo Stoitschkow beim anschließenden Bankett lauthals zuruft: „Ober, ein Faß Bier und eine Portion Pommes, aber dalli“, ist das Maß voll. Braun rennt hinaus in die bulgarische Nacht und taucht erst sechs Tage später unrasiert, ohne Hosen und mit Tonsur in Aachen auf. Nie mehr werde er als DFB-Präsident fungieren, erklärt er mit schwacher Stimme, sondern fortan nur noch im Kloster Maulbronn die Orgel betätigen. Der VfB-Stuttgart-Präsident Mayer-Vorfelder stellt sich spontan als Nachfolger zur Verfügung, aber er wird nicht gefragt, sondern Franz Beckenbauer. Die Antwort lautet wie erwartet: „Auf keinen Fall eigentlich ja nicht, aber wenn kein anderer, außer Mayer- Vorfelder, zur Verfügung steht, dann könnte ich mir vorstellen, vielleicht für eine gewisse Zeit, auch länger, unter Umständen – okay, ich mach's.“

Frankfurt/Hamburg, 12. Juni: Nach langen und schwierigen TV- Verhandlungen kommt es doch noch zum ersehnten Weltmeisterschaftskampf zwischen Henry Maske (Manager Sauerland) und Dariusz „Tiger“ Michalczewski (Manager Kohl). Nachdem lange Zeit keine Einigung darüber erzielt werden konnte, ob nun RTL (Maske) oder Premiere (Tiger) den Frankfurter Kampf übertragen dürfe, kommt es zu einem Kompromiß. Die Sender wechseln sich jede Runde ab und bringen in der übrigen Zeit Bilder vom gleichzeitig in Hamburg stattfindenden Duell zwischen Graciano Rocchigiani (Kohl) und Torsten May (Sauerland). In der fünften Runde kommt es zur Katastrophe. Aufgrund einer technischen Fehlschaltung schlägt Rocchigiani Michalczewski k.o., May und Maske verschwinden zur selben Zeit spurlos im Äther. Während Rocchigiani gelassen bleibt („Hauptsache, Weltmeester“), begehen die beiden Manager gemeinsam Selbstmord.

Bordeaux, 23. Juli: Nachdem Miguel Induráin das Bergzeitfahren der 19. Etappe der Tour de France auf der Achterbahn des örtlichen Rummelplatzes souverän gegen den Schweizer Tony Rominger gewonnen hat, geht er mit drei Runden Vorsprung als deutlicher Favorit auf den letzten Abschnitt der Frankreich-Rundfahrt im Velodrome von Bordeaux. 312 Runden vor Schluß fällt der Spanier jedoch plötzlich ohnmächtig vom Rad. „Chronischer Drehwurm“, diagnostiziert der Tour-Arzt, während Triumphator Rominger bereits im Hubschrauber zur Siegerehrung auf die Champs Elysées unterwegs ist.

Göteborg, 4. bis 13. August: Weil es bei der Leichtathletik-WM immer noch kein Preisgeld gibt, kommt es zu einem Totalboykott der Athletinnen und Athleten. Statt dessen treten die Funktionäre des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF) an. Die Veranstaltung im stets ausverkauften Ullevi-Stadion wird ein grandioser Lacherfolg. IAAF-Boß Primo Nebiolo gewinnt selbst das Kugelstoßen und kündigt an: „Jetzt holen wir uns auch noch die Golden Four und den Grand Prix.“

Wien, 18. August: Wegen diverser Werbetermine konnte Franziska van Almsick verständlicherweise nicht an der EM-Qualifikation der deutschen Schwimmerinnen teilnehmen. Da Dagmar Hase („Schwimmen ist mir zu traurig“) inzwischen zurückgetreten ist, erhebt sich die Frage, wer freiwillig seinen WM-Platz räumt. Niemand ist dazu bereit und Schwimmwart Ralf Beckmann versichert: „Wir zwingen keine.“ Ein glücklicher Zufall ermöglicht aber doch noch van Almsicks Start. Am Morgen des ersten Wettkampftages wird Daniela Hunger mit einer Überdosis Vollmilchschokolade im Blut im Trainingsbecken treibend gefunden. „Hurra, Franzi“, titelt die Bild-Zeitung, vergißt aber nicht, Daniela Hunger posthum den Fairneßpreis der deutschen Boulevardpresse zuzusprechen.

Nürburgring, 8. Oktober: Skandal beim „Großen Preis von Europa“. Ein von dem Briten Damon Hill beauftragter Privatdetektiv ermittelt, daß in den Wagen des Siegers Michael Schumacher ein verbotener Beifahrer eingebaut war. Streckenposten ergreifen einen Verdächtigen und entdecken in seiner Tasche ein Mini-Radar und einen genauen Plan des Nürburgrings. „Ich habe den Mann noch nie gesehen“, beteuert Schumacher, doch Augenzeugen berichten, daß sie den in der Weltmeisterschafts-Wertung führenden Formel-1-Piloten und das verdächtige Subjekt, das als ein gewisser Walter Röhrl identifiziert wird, am Abend zuvor gemeinsam in einer Kerpener Kneipe gesehen hätten. Der Weltverband verurteilt Schumacher zu einer besonders drastischen Strafe: der Deutsche wird für das letzte Rennen der WM-Serie gesperrt.

Berlin, 15. November: Nach dem 1:4 gegen Bulgarien ist der EM- Zug für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft endgültig abgefahren, dennoch herrscht prächtige Stimmung im deutschen Lager. Im Vergleich zu den Spielen gegen Georgien (0:5/0:3), Wales (0:2/0:7), Moldawien (0:2) und in Sofia (0:4) sei ein deutlicher Fortschritt zu verzeichnen, erklärt DFB-Präsident Franz Beckenbauer, obwohl man auch da nicht schlecht gespielt habe: „Die Georgier wissen doch immer noch nicht, wie sie acht Tore gegen uns geschossen haben.“ Spontan gibt er Bundestrainer Berti Vogts einen Vertrag auf Lebenszeit, und dieser verspricht: „Der fünfte Gruppenplatz ist eine Grundlage, auf der wir aufbauen können, in Zukunft werde ich aber andere Saiten aufziehen.“ Besonders gelungen sei aber das Experiment mit Sammer und Matthäus in der Sturmspitze. „Hinten waren wir zwar etwas offen, doch das Tor steht vorn, also müssen dorthin unsere besten Kräfte“, sagte Vogts, das habe sich ja auch beim Ehrentreffer gezeigt, den Libero Klinsmann nach einer Flanke des Rechtsaußen Sammer erzielte, während Matthäus nach allen Seiten und nach oben absicherte. Auch Sammer ist begeistert: „Ich kann schon den Stan-Matthews- Trick. Wer soll uns jetzt noch schlagen?“.