Russische Truppen stürmen Grosny

■ Dudajews Präsidentensitz angeblich erobert / Russischer Pilot: „Wahnsinn und Barbarei“

Moskau (taz) – Russische Truppen haben offenbar den Präsidentenpalast in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny eingenommen. Das meldete gestern abend der Pressedienst der russischen Regierung. Tschetschenische Soldaten bestritten dagegen die Eroberung. Unklar war zudem der Aufenthaltsort von Präsident Dschochar Dudajew. Nach einer Meldung der Agentur Interfax soll er sich aus Grosny abgesetzt haben. Bisher hatte es geheißen, er hielte sich in einem Bunker des Palastes auf. Sicher ist jedoch, daß die russische Führung entschlossen ist, Grosny so schnell wie möglich einzunehmen. Obwohl Dudajew einen Waffenstillstand für die Neujahrsnacht anbot, begann am Samstag die Erstürmung der Stadt. Und auch die russischen Kampfflieger setzten ihre Angriffe auf Grosny fort.

Das Pressezentrum der russischen Regierung hatte am Wochenende die Einnahme wichtiger strategischer Ziele im Zentrum der Stadt bekanntgegeben. Verteidigungsminister Pawel Gratschow hatte selbiges schon in einem Fernsehinterview am Freitag geäußert, konnte sich dabei allerdings nicht an die Namen der „befreiten“ Gebiete erinnern. Augenzeugenberichten zufolge drang am Sonnabend eine Panzerkolonne in die Stadtmitte vor, mußte sich jedoch wieder zurückziehen. Insgesamt zählten ausländische Beobachter neun zerstörte russische Panzerfahrzeuge, in deren Umgebung verkohlte Leichen russischer Soldaten lagen. Die Tschetschenen feierten am Sonnabend die Abwehr der ersten Sturmwelle als ihren Erfolg. Im Triumph fuhren sie drei erbeutete Panzer durchs Zentrum, während Hunderte von Freischärlern auf Lkws zur Verstärkung in die Stadt gebracht wurden.

In einer mit Pathos angereicherten Neujahrsansprache nannte Präsident Jelzin die Wiederherstellung des Friedens in Tschetschenien, Inguschien und Nordossetien seine wichtigste Aufgabe fürs kommende Jahr. Sein besonderer Dank galt den Wehrdienstleistenden, die selbst noch in der Silvesternacht im Dienste des bedrohten Vaterlandes ihr Leben aufs Spiel setzten. O-Ton Jelzin: „Unser weites, schönes und großes Rußland hat es im Augenblick nicht leicht.“

Die Wochenzeitung Moskowskije Nowostij veröffentlichte ein Interview mit einem Kampfflieger. Demnach hatten die Piloten keine Anweisungen, zivile Ziele in Grosny zu schonen. Ihnen wurde erzählt, in der Stadt sei außer Banditen keiner zurückgeblieben und Tschetschenen hätten Russen deportiert. „Die Luftwaffe hier einzusetzen, ist Wahnsinn und Barbarei“, meinte der anonyme Pilot. Die Führung habe nach ausbleibendem Erfolg beschlossen, Grosny dem Erdboden gleichzumachen, „damit jeder denkt, der Widerstand ist stark“. Um Druck und Belastung auszuhalten, neutralisiere man das mit Wodka. „Ich vermeide es, Zeitung zu lesen und fernzusehen, um nicht verrückt zu werden.“ Klaus-Helge Donath