„Weil Morgenrot schlechtes Wetter bringt“

■ „Die Linke ist ein Gespenst für die Konservativen und die Reaktionären“ / Wilfried Gottschalch über Arbeiter-biografie, linkes Selbstverständnis, „nationale Identität“ in Deutschland und Vernunft

In einem Aufsatz von 1976 schreiben Sie: –Wer in Deutschlands proletarischer Provinz Sachsen, aufgewachsen ist, dem klingen die Lieder der Arbeiterbewegung wie Wiegenlieder im Ohr. Ihre Melodien, Rhythmen und Worte verführen ihn zum Träumen und Mitmarschieren, und unversehens findet er sich im Staatssozialimus wieder.“ Ist das eine Warnung? Wer nicht aufpaßt, dem kann dieses sehr schnell passieren.

Wilfried Gottschalch: Ich bin in der 'roten Kaserne' in Pirna aufgewachsen, in einem proletarischen Lebenszusammenhang. Die Menschen dort waren bitterarm, es war die Wirtschaftskrise gewesen, und mein Vater hat nicht viel verdient. Er war Angestellter beim Arbeitsamt, kein Beamter, und wir galten in dieser Umgebung als die Reichen. Es gehörte einfach dazu, daß Arbeiterlieder gesungen wurden, das waren beinahe unsere Volkslieder – wir haben natürlich auch die erzgebirgischen Lieder gesungen. Aber das war für mich überhaupt kein großer Unterschied, ich war damals vier Jahre alt. Das zum Hintergrund.

Aber Sie haben recht mit Ihrer Feststellung. Ich meine allerdings eher, es ist eine Dialektik von Verführung und Enttäuschung, die in Deutschland allerdings meist zur Bestrafung wird.

In der Darstellung Ihrer Jugend in der 'roten Kaserne' sprechen Sie u.a. den tiefen Riß zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten an. Und trotzdem findet sich der Satz: 'Aber die Kinderfeste feierten alle gemeinsam.'

Die Verfeindung zwischen den beiden Gruppen war zu stark, als daß da richtige Verbindungen hätten hergestellt werden können. Das einzig mögliche wäre zwar ein politischer Massenstreik gewesen, aber was nutzt ein Massenstreik, wenn sowieso alle arbeitslos sind? Von den 15 Vätern in der 'roten Kaserne' waren 13 arbeitslos, 1933. Was sollte da ein Streikaufruf von Kommunisten oder Sozialdemokraten oder von wem auch immer? Die andere Möglichkeit wäre gewesen, zur Waffe zu greifen. Die Kommunisten hatten Waffen. Das haben mir ältere Kinder auch erzählt – und die Sozialdemokraten wußten das. Was hätten die aber machen können gegen die Reichswehr? Nichts!

Damit war der Sieg der Nazis ...

... nahezu besiegelt! Ich glaube, der Fehler liegt viel früher: in der unvollendeten Revolution von 1918 und 1919. Nicht daß ich der Meinung bin, die Sozialisten hätten damals so etwas wie eine sozialistische Revolution machen können, die wäre gescheitert. Deutschland hatte den Krieg verloren, in diesem Fall wären die Alliierten in Deutschland eingedrungen und hätten das Land besetzt. Aber was möglich gewesen wäre – und das ist das Versagen der deutschen Sozialdemokraten – daß sie die Generäle und monarchistischen Beamten davongejagt hätten, daß sie eine radikale, demokratische Revolution in Deutschland..., daß sie eine gute Demokratie in Deutschland errichtet hätten. Das ist das Versagen der Sozialdemokratie!

Gleichwohl traten Sie später in Westberlin in die SPD ein.

Ich war von 1951 bis 1961 SPD-Mitglied, das ist wahr. Das war ja die einzige demokratische Partei, von der ich hoffte, daß man in ihr mitarbeiten könnte. Aber trotzdem war da immer ein Stück Vorbehalt. Dazu hat vielleicht beigetragen, daß ich ein Mensch bin, der sehr viel von deutscher Sprache hält; als ich zur Sozialistischen Jugend, den Falken, in Westberlin kam, da wurden auch diese Lieder gesungen, z.B. –Dem Morgenrot entgegen.' Ich habe über die Lieder nachgedacht und bin über die merkwürdigen Texte gestolpert. Das sind doch Lieder von Großstadtjungen. Ich bin ja nun in einer Industriearbeitergegend aufgewachsen, am Rande vom Erzgebirge und vom Elbsandsteingebirge, und ich wußte, daß Morgenrot schlechtes Wetter bringt. Auch dieses 'Auf zum letzten Gefecht!'. Meiner Auffassung müßte das heißen: 'Auf zum nächsten Gefecht.' Das Himmelreich auf Erden ist eben nicht drin! Obwohl ich immer eher ein Mann der Linken gewesen bin – allerdings habe ich einen anderen Begriff von 'links' als die meisten Linken – bin ich schon als Kritiker in die SPD eingetreten.

Was war der Anlaß für Ihren Austritt?

Ich bin nicht etwa ausgetreten, weil mir die SPD zu wenig links war – ich würde heute noch zufrieden sein, wenn sie eine konsequente demokratische Partei wäre – meiner Auffassung nach ist sie das leider nicht – sondern weil sie mir zu wenig liberal im Sinne von Grundrechten und Freiheitsrechten war.

Ich war damals als Assistent im wissenschaftlichen Beirat des SDS und mit den meisten Parteioberen in Berlin gut bekannt. Bei einer Diskussion zwischen ein paar Professoren und Assistenten habe ich gefragt: 'Wie hält es der Parteivorsitz mit der Wissenschaftsfreiheit?' Und da sagte Kurt Mattick, damals zweiter Parteivorsitzender: 'Natürlich sind wir für die Wissenschaftsfreiheit, aber die Loyalität gegenüber der SPD geht vor.' – Da bin ich ausgetreten.

Sie haben gerade Ihren Begriff vom Linkssein etwas ausdifferenziert. Links bedeutet für Sie: kein Denkverbot; es ist auch etwas Konservatives dabei im Sinne von einem Bewahren bestimmter guter Traditionen

Ich möchte es mal so ausdrücken: für mich heißt links sein: immer auf der Seite der Schwachen zu stehen. Ich bin der Auffassung, daß in dieser heute durch und durch verbürokratisierten Welt die Schwachen diejenigen sind, die keine Organisationsmacht haben. Also nicht so sehr die Arbeiterklasse, sofern die überhaupt noch als politische Kraft besteht. Schwach sind diejenigen, die sich nicht organisieren können, sich also nicht politisch durchsetzen können. Simone Weil, die jüdische und später katholische Sozialistin, hat das so ausgedrückt: 'Die Gerechtigkeit ist immer ein Flüchtling aus dem Lager des Siegers.' Und Canetti: 'Auf der Seite der Sieger darf man nicht stehen.' Da habe ich ein reines Gewissen, ich hab noch nie auf der Seite der Sieger gestanden! Das ist natürlich ein anderes Verständnis vom Linkssein als bei den Sozialisten, den Kommunisten oder auch bei den Grünen. Da muß man immer zu einem Kollektiv gehören, man muß sich immer gewissen Gruppenzwängen unterwerfen, und die sind mir persönlichkeitsfremd. Das kann ich einfach nicht.

Man beobachtet jetzt bei vielen ehemaligen Linken, die heute z.B. bei den Grünen sind, einen Versuch, den 'Stolz, ein Deutscher zu sein', neu zu definieren.

Na ja, das muß jeder individuell lösen, dieses Problem. Es gibt da keine kollektive Lösung. In den Niederlanden muß ich nur den Mund aufmachen und niederländisch reden, dann hören die, daß ich ein Deutscher bin. Dann gucken sie mich schon an: ist der 'goed' oder ist der –fout'? Ist das ein anständiger Deutscher? Ich kann mit dem Begriff nationale Identität' oder –deutsche Identität' wirklich nichts anfangen. Wenn man darauf schon so großen Wert legt, dann würde ich diejenigen Leute doch bitten, ein sauberes Deutsch zu sprechen. Wenn man dieses Gestotter und Gestammel von Politikern hört, ob links oder rechts.

Sind Sie nach dem Fall der Mauer nach Dresden zurückgekehrt?

Sehen Sie, 1951 mußte ich weggehen. Und dann konnte ich 20 Jahre nicht dahin. Nach Sachsen konnte ich erst wieder, nachdem ich nach 1971 hier in Bremen war. Dann bin ich jedes Jahr ein- oder zweimal zu meinen Angehörigen gefahren. Insofern war die Wiedervereinigung – ich hab in Bezug auf Ostdeutschland ja immer von Gleichschaltung gesprochen – für mich nicht so ein bewegendes Ereignis. Es war dann eher so, daß ich gesagt habe: jetzt fahre ich nicht mehr hin. Ich möchte nicht nach Deutschland zurück, ich möchte nicht nach Sachsen zurück. Ich bin da weggegangen, das ist meine Heimat, die verleugne ich nicht. Das merkt man am Dialekt, da bleiben ja sächsische Untertöne, und das rührt mich auch an, ... ohne Zweifel. Dieses Wiedersehen mit den Leuten, mit denen ich in dieser –roten Kaserne' aufgewachsen bin, war für mich wirklich bewegend, aber ... das ist es dann.

Wo ich einmal war, dorthin möchte ich nicht zurück. Ich möchte nicht mehr in Pirna wohnen und auch nicht in Dresden. In Berlin war ich 20 Jahre, dahin möchte ich auch nicht mehr; ebenso ergeht es mir mit Bremen, dort war ich 9 Jahre. Zum Arbeiten komme ich allerdings immer gerne zurück.

In den Niederlanden sehen Sie sich als Gast?

Ja. Während ich jetzt hier die Tage in Bremen ein Gast bin – man sagt doch so: wenn man zu lang bleibt, fängt man an zu stinken wie ein Fisch – so bin ich in Holland ein Gast, der bleibt. Das heißt, ich lebe in Holland als Gast. Wenn mich nicht irgend etwas zwingt, will ich Holland nicht verlassen. Ich fühle mich in einem Verhältnis freundlicher distance am wohlsten. Das habe ich in den Niederlanden gefunden. In Deutschland wollte man immer, daß man zu irgend einer Gruppe dazugehört; das wollen die Niederländer von den Niederländern zwar auch, aber sie wollen es nicht von mir.

Fordert es nicht genauso viel Mühe, die Rolle des Gastes durchzuhalten wie ein Dazugehöriger zu sein?

Ich wohne ja am festen Ort, ich bin der Gast, der bleibt. Seit 1983 wohne ich in Bussum in demselben Haus. Studenten, die mich besucht haben, haben sich gewundert, daß dieselben Bücherregale da sind und daß es fast so eingerichtet ist wie in Bremen. Also da haben wir die konservative Seite. Das sind meine vier Wände. Mir geht es da wie Heinrich Heine, der gesagt hat – das bezieht sich bei den Juden ja eigentlich auf die Thora – aber er hat das auf die deutsche Sprache und Literatur übertragen: –Mein Vaterland ist transportabel.' Das sind meine Bücher. Also ich hab da ganz andere Auffassungen, ich denke, daß ich die mir dadurch erworben habe, daß ich eben Zeit meines Lebens irgendwie ein Einzelgänger war und dann gelernt habe, da was Gutes daraus zu machen, ein Stück Unabhängigkeit und Freiheit zu erleben.

Ist es nicht auch ein Verlust, daß die Linke' nur noch rhetorisch existiert? Zwar gibt es radikal denkende Einzelne ...

... wenn es die gibt, so ist das schon allerhand! Sehen Sie, die Geschichte der Arbeiterbewegung war doch von Anfang an eine Geschichte von Richtungskämpfen. Und das gilt auch für die bürgerlichen Liberalen, die waren ja die Vorgänger der proletarischen Linken, wenn man so will. Das muß man wissen. Die Linke ist ein Gespenst für die Konservativen und die Reaktionäre. Die denken, das sei ein großer Haufen und die Linken selbst möchten ein so großer Haufen sein, weil sie die Idee haben, daß sie dann mehr Macht hätten.

Sie haben immer wieder in Aufsätzen, in Stellungnahmen betont, daß Ihnen und uns allen nichts anderes übrig bliebe, als der leisen Stimme der Vernunft zu trauen.

Ich meine nicht, daß man der Vernunft vertrauen kann. Weil die Vernunft ja nicht etwas Dingliches ist, sondern Vernunft kann man nur üben und praktizieren. Alles, was mit Aufklärung, Erziehung, bis hin zur Psychotherapie zu tun hat, ist Sisyphusarbeit, die nie dazu führt, daß die Menschen plötzlich alle gescheit werden. Ja, ich möchte der leisen Stimme des Intellekts Gehör verschaffen. Ich will ihr Anwalt sein, sie selbst spricht ja nicht. Wir können sie anwenden und die gescheiteste Lösung suchen. Das versuche ich, und da habe ich viele Mißerfolge und viele Erfolge gehabt. Es gibt Leute, die bei mir studiert haben und die gute Arbeit machen, und ich weiß auch, daß sie manchmal schlechte Arbeit machen. Das ist offen. Ich würde sagen, die Vernunft bleibt uns nicht treu, aber wir können versuchen, der Vernunft treu zu bleiben. Sie ist ein Abstraktum und wir wissen nicht, wie sie gegenständlich ist. D.h. in unserer Situation hier an diesem Tische ist Vernunft etwas anderes, als wenn wir zu einem Vorstandsgremium einer Partei gehörten, da hätten wir andere Aufgaben. Da müssen wir listig sein, um dann – manchmal – die Weichen so oder so zu stellen, um der Vernunft ein Stück zu Gehör zu verhelfen.

Fragen: Achim Saur und Jürgen Meierhard