Verwirrte Soldaten

■ Der russische Abgeordnete Viktor Scheinis zum Krieg in Tschetschenien

taz: Herr Scheinis, Sie kommen gerade aus Grosny zurück...

Viktor Scheinis: Grosny wurde in einer großangelegten Aktion zu stürmen versucht. Was bei solchen Operationen passiert, ist weitgehend bekannt. Die Stadt ist zu maßgeblichen Teilen zerstört. Das war der Stand am 1. Januar, danach folgten weitere Vorstöße. Eine Militäraktion dieses Maßstabs gegen eine Bevölkerung von mehreren hunderttausend friedlichen Bürgern erfüllt den Tatbestand eines Kriegsverbrechens. Wir hatten kein Problem, aus der Stadt rein- und rauszukommen. Schwierig ist es, den Präsidentenpalast zu verlassen, der unter ständigem Beschuß liegt. Die Straße, auf der wir ausfuhren, wurde nicht kontrolliert. Daß die Stadt eingeschlossen und kontrolliert werde, ist also auch eine Moskauer Lüge.

Wieso werden Hunderte von jungen, schlecht ausgebildeten Soldaten verheizt, wo stecken die glorreichen Spezialeinheiten?

Zum einen ist es schwierig, mit Panzern eine Stadt einzunehmen, zumal bei einer Bevölkerung, die ausgerüstet ist mit Granaten, Panzerfäusten und dergleichen. Die Operation ist so stümperhaft durchgeführt worden, wie sie zuvor geplant wurde. Andererseits, und das ist womöglich noch wichtiger: die Menschen sind tief überzeugt, sie kämpfen für die Freiheit und Unabhängigkeit Tschetscheniens. Auf der Gegenseite stehen völlig verwirrte und schlecht ausgebildete Soldaten, die man in die Schlacht geworfen hat: Gefangene, mit denen wir gesprochen haben, fuhren mit einem kaputten Panzer rein, der Turm drehte sich nicht, er klemmte etwas. Nach dem Prinzip: billig, aber viel.

Ihnen wird von der Regierung vorgeworfen, Sie würden die Opferzahlen übertreiben.

Rechnet man pro Panzer drei, vier Mann Besatzung auf 250 Panzer insgesamt, 100 wurden vernichtet, das sind schon mehrere hundert Gefangene oder Gefallene. Der Kampf endete mit der Vernichtung aller reinstürmenden Truppen. Ich zweifele nicht daran, daß noch viel mehr Zivilisten getötet wurden. Menschenrechtler Kowaljow sprach von tausend Toten.

Wie stehen die Russen in Grosny zu „ihren Befreiern“?

Ich habe mit Hunderten Russen dort gesprochen. Sie treibt ein Gefühl des Grauens und des völligen Nichtverstehens um. Warum ein so brutaler Kampf? Es gibt kein Wasser, kaum sanitäre Einrichtungen in den Bunkern. Man holt Wasser aus den Flüssen oder Bächen am Stadtrand. Leute, die aus den Bunkern kommen, verfluchen sogar uns Deputierte: Was hat die Duma getan, um den Krieg aufzuhalten? Sie mögen nicht einmal Anhänger Dudajews sein, sie wollen nur keinen Krieg.

Der Krieg folgt einer kaum zu kontrollierenden Logik.

Natürlich. Und die Leute, die diese Operation umsetzen, sind offensichtlich bereit, bis zum Ende zu gehen. Ich halte es nie für zu spät, einen Krieg zu stoppen. Auf jeden Fall zeigt Grosny Bereitschaft, bedingungslos Gespräche aufzunehmen. Irgendwo habe ich Stepaschins (Chef des Geheimdienstes, d.Red.) Antwort gelesen: Von Gesprächen könne keine Rede sein, höchstens von einem Ultimatum. Mit einem Ultimatum darf man sich nicht an ein freiheitsliebendes Volk wenden.

Wie soll der Westen reagieren?

Rußland ist Teil der Weltgesellschaft. In Rußland beachtet man sehr wohl, welchen Eindruck es im Westen hinterläßt. Dem kann man nicht mehr entfliehen. Eine entschiedenere Haltung des Westens könnte die Chancen einer friedlichen Lösung erheblich verbessern, obwohl nicht garantieren. Interview: Klaus-Helge Donath