Kinkel: Jelzin fehlt das rechte Maß

■ Im Westen herrscht Hilflosigkeit angesichts des Kriegs in Tschetschenien / Nur schwache Proteste aus Bonn / Moskau gibt Verluste zu, die Armee bereitet zweiten Großangriff auf Grosnys Zentrum vor

Bonn/Grosny (dpa/taz) – Für Bundesaußenminister Kinkel ist der Krieg in Tschetschenien nach wie vor lediglich ein innerrussischer Konflikt. Die Tschetschenen hätten keinen Anspruch auf staatliche Unabhängigkeit, und niemand könne Rußland abstreiten, daß es einen zu seinem Staat gehörenden Teil nicht abdriften lassen wolle, sagte Kinkel gestern.

Andererseits könne es keinen Zweifel daran geben, daß die Russen bei der Anwendung ihrer Mittel in Tschetschenien die Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschritten hätten. Dies habe die Bundesregierung bei allen Gesprächen mit Vertretern Rußlands in letzter Zeit immer deutlich gemacht. Nach Kinkels Ansicht kann der Westen in der jetzigen Situation nur wenig tun. Er habe seinem russischen Kollegen Andrej Kosyrew empfohlen, von sich aus Beobachter der OSZE anzufordern. Die dafür erforderliche Einstimmigkeit des Hohen Rates der Organisation sei allerdings „im Augenblick nicht erreichbar“. Die einzige Möglichkeit sei es, die russischen Reformkräfte, die bei weitem noch nicht am Ende seien, zu unterstützen und Rußland mit allen politischen Mitteln zu drängen, die Menschenrechte einzuhalten und die Zivilbevölkerung zu schonen.

Wie diese Unterstützung aussehen könnte, erläuterte gestern morgen die russische Menschenrechtsgruppe „Memorial“. Sie forderte die westlichen Staaten auf, wegen des Tschetschenien-Konfliktes bei der russischen Regierung Einspruch zu erheben. Die russischen Truppen würden im Laufe des Tages den Großangriff auf den Präsidentenpalast in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny starten, hieß es in einem Aufruf der Gruppe. Die Botschafter der USA, Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens wurden aufgefordert, mit der russischen Regierung zu sprechen. Memorial bezeichnete das Vorgehen in Tschetschenien als Krieg gegen Demokratie und Freiheit.

Die Bevölkerung von Grosny bereitet sich unterdessen auf diesen zweiten russischen Großangriff auf die Hauptstadt der Kaukasusrepublik vor. Nachdem es den tschetschenischen Truppen offenbar gelungen ist, die russischen Truppen aus dem Stadtzentrum zu vertreiben, ist Moskau nach eigenen Angaben nun bemüht, seine Kräfte „umzugruppieren“. Nach Angaben eines tschetschenischen Parlamentsabgeordneten werde ein Angriff mit 500 Panzerfahrzeugen vorbereitet. Zugegeben wird von Moskau inzwischen, daß bei den Kämpfen in den vergangenen drei Tagen „mehrere Dutzend Panzer“ eingebüßt wurden. Unabhängige Beobachter sprachen dagegen von rund 100 Panzern. Zum erstenmal konnten die Russen gestern auch im staatlichen Fernsehen die Bilder von den verwüsteten Straßenzügen Grosnys sehen. Bisher war dies nur auf dem Privatsender NTV möglich.

Gekämpft wurde in Grosny gestern etwa 1,5 Kilometer vom Präsidentenpalast entfernt. Auf den Straßen der Stadt lägen die Leichen von über 100 russischen Soldaten, meldete Interfax. Ein verletzter russischer Offizier sagte, von den 20 Panzerfahrzeugen seiner Einheit seien 17 von den Tschetschenen zerstört worden. Russische Kampfflugzeuge griffen Grosny erneut an.

In einem taz-Interview hielt der russische Parlamentsabgeordnete Viktor Scheinis, der sich mehrere Tage in Grosny aufgehalten hatte, der Regierung vor, die Militäraktion „erfülle den Tatbestand eines Kriegsverbrechens“. Keine Reaktion gab es in Moskau auf ein neues Waffenstillstandsangebot des tschetschenischen Präsidenten Dudajew. dr/her

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