Nichtachtung der Menschenwürde des Kindes

■ betr.: „In die feministische Ecke gedrängt“, taz vom 27.12.94

[...] Bagatellisierung und Leugnen von Kindesmißbrauch dient dem Schutz der Erwachsenen vor schmerzhaften Erinnerungen und/ oder vor Schuldgefühlen, resultiert aus Gefühllosigkeit den Kindern gegenüber und basiert immer noch auf erschreckendem Unverständnis und einer allgemein verbreiteten Nichtachtung der Menschenwürde des Kindes.

Es ist nicht verwunderlich, daß Kinder anfangen, ihre Erlebnisse zu dramatisieren, wenn sie merken, daß sie sonst nicht die Aufmerksamkeit finden, die sie in ihrer Not so dringend brauchen. Und sie werden aus dem gleichen Grund aufhören, überhaupt davon zu erzählen, wenn sie merken, daß Jugendämter ihr reales Leiden als Phantasien abtun. Nicht zuletzt ziehen die Kinder und Jugendlichen, die von zu Hause abhauen, das harte Leben auf der Straße diesen Ämtern deshalb vor, weil sie dort meist völlig richtig nur die Fortsetzung der familiären Erziehungsmethoden „zu ihrem Besten“ erleben. Und darum: Welche Folgen hat es, wenn der reale Mißbrauch an einem Kind aufgrund von gewollter Blindheit seiner erwachsenen Umgebung unentdeckt bleibt oder bagatellisiert wird?

Eine Auswahl an Szenarien:

1. Das Kind muß erfahren, daß seine realen Empfindungen überall als „Phantasien“ angesehen werden, und beginnt notgedrungen, an seinen eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen zu zweifeln = Verwirrung Nr. 1

2. Weil das Kind seine Eltern liebt und sich nicht vorstellen kann, daß diese es nicht lieben, achten und respektieren (das ist biologisch nicht vorgesehen, kulturell bedingt bei uns jedoch durchaus häufig der Fall!), lernt das Kind, Schmerzen, Demütigung, rücksichtsloses Benutztwerden etc. als „Liebe“ anzusehen = Verwirrung Nr. 2.

3. Weil das Kind von den Eltern total abhängig ist, muß es die Schmerzen, Haßgefühle, die Scham, die Wut, aber auch alle eigenen Bedürfnisse, die der rücksichtslosen Bedürfnisbefriedigung der Eltern am Kind im Wege stehen, verdrängen, ein Auflehnen gegen die Eltern würde sein Überleben gefährden und wäre auch völlig sinnlos, da die Eltern viel stärker sind. Daß diese Gefühle bei jedem Kind, das mißbraucht wird, vorhanden sind, zeigt, daß das biologische Programm des Menschen genau weiß, welches Verhalten der Eltern dem Kind gegenüber angemessen ist und welches nicht = Verwirrung Nr. 3.

Dieses verwirrte Kind wird nun erwachsen. Die verdrängten Gefühle führen ihr Eigenleben und bescheren uns allen Drogenprobleme, Gewalt, Größenwahn, Rücksichtslosigkeit, Depressionen, Vergewaltigungen, Prostitution, Sextourismus, Mord etc. und nicht zuletzt erneute Kindesmißhandlungen und Experten, die diese leugnen. Praktischerweise sorgen die Jugendämter dadurch, daß sie die allgemeine Verwirrung noch zementieren, auch dafür, daß immer wieder verwirrte Jugendliche nachwachsen und bestätigen somit ihre Daseinsberechtigung. Leugnung der Realität auf Kosten der Kinder als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme?

Es gibt nichts, was man einem Kind nicht antun könnte, denn es ist absolut wehrlos. Seine einzige Chance besteht darin, anderen Erwachsenen zu erzählen, was ihm geschieht, damit diese es schützen. Versetzen Sie sich in die Lage eines fünfjährigen Kindes, das mißbraucht wird und dem niemand glaubt, das nirgends Hilfe findet, weil es als Eigentum der Eltern gilt? Was fühlen Sie, was würden Sie an seiner Stelle tun? Unsere Gesellschaft läßt offensichtlich nichts unversucht, um zu verhindern, daß wir endlich sehen und fühlen, was hier täglich wirklich passiert. Claudia Freyer, Belzig