In der Striptease-Bar...

■ Neu im Kino: “Exotica“ vom Armenier Atom Egoyan

Im Chaos des hochtechnologischen „anything goes“ müßen sich die Menschen ihre eigenen Rituale, Mythen und Gefühlswelten schaffen. Auf die Sinnsuche begibt sich jeder Einzelne für sich alleine, und „nichts ist exotischer als die eigene Existenz.“

Das ist das Credo des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan, und all seine Filme sind wie Krimis aufgebaut, bei denen das möglichst kunstvoll und verschlüsselt präsentierte Rätsel nicht heißt „wer war's?“ sondern „wer ist dies wirklich?“. Menschen tun da absonderliche Dinge, auf die man sich lange keinen Reim machen kann. Wenn man aber glaubt, es sei offensichtlich, warum zum Beispiel ein Mann Stammgast in einem Stripteaselokal ist, dann ist man damit bei Egoyan ganz sicher auf dem Holzweg.

Dieser Nachtclub, das „Exotica“, ist der Hauptschauplatz von Egoyans neuem Film. Hier arbeiten die Filmfiguren als Stripperin, Zeremonienmeister und Chefin oder sie kommen als zahlende Gäste. Selbst ein Erzählstrang, der in einer ganz anderen Athmosphäre bei einem schwulen Tierhändler in dessen Laden voller Aquarien beginnt, mündet durch absurde Zufälle und Verwicklungen im „Exotica“.

Ein Steuerprüfer besucht jeden Tag den Nachtclub, weil er glaubt, durch den Tanz einer als Schulmädchen verkleideten Stripperin den Tod seiner Tochter überwinden zu können; ein idyllischer Spaziergang durch eine sommerliche Landschaft endet mit einer Entdeckung, die einer Liebesbeziehung von Anfang an einen düster, makaberen Grundton gibt und wir erleben das Entstehen eines „Instant Rituals“, in dem Eintrittskarten für die Oper und geschmuggelte Eier von seltenen Tropenvögeln eine wichtige Rolle spielen.

Diese sehr verwinkelte und gewitzte Art des Erzählens macht den Hauptreiz des Films aus. Oft weiß man gar nicht, warum Egoyan nun gerade dieses Partikel aus der Geschichte einer Figur erzählt, und man erkennt erst viel später, welche Information der Regisseur uns darin untergeschoben hat. Egoyan präsentiert die Geschichte wie einzelne Stücke eines Puzzles: jedes sehr kunstvoll und makellos ausgeführt, aber man erkennt das Muster nicht, und erst wenn das letzte Stückchen eingesetzt ist, macht alles plötzlich Sinn.

Und diese Auflösung ist keine smarte Pointe, die kurz überrascht und dann schnell wieder vergessen ist – stattdessen gibt uns Egoyan hier Einblick in die Innenwelten der Figuren, und wir erkennen die Gründe, warum die Menschen scheinbar so irrational, pervers oder absurd handeln. Egoyan läßt uns 100 Minuten über diese Menschen nachdenken: wir lernen sie kennen, aber verstehen sie nicht, und wenn dann zum Schluß die Motivationen deutlich werden, ist dies eines großes, brilliant vorbereitetes Aha-Erlebnis.

Gerade weil dieser Film auf der Oberfläche so dekadent und kühl daherkommt, wirken diese sehr ernsthaften und sensiblen Blicke auf Verzweiflung, Schmerz und Liebe so berührend und menschlich.

Wilfried Hippen

Schauburg 18.00 u. 20.30 Uhr