■ Ansprache an die Demonstranten, die gestern in Bonn gegen Jelzins Tschetschenien-Politik protestierten: Alle müssen sich einmischen!
Sehr geehrte Anwesende, werte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!
In Tschetschenien wütet seit Wochen eine rücksichtslos grausame Schlacht, Tausende Menschen mußten sterben, Zehntausende wurden verwundet, sind verkrüppelt, Hunderttausende sind mitten im Winter obdachlos geworden und auf der Flucht. Der brutale, von Jelzin und seinem Verteidigungsminister befohlene Angriff gilt dem kleinen freiheitsliebenden Volk der Tschetschenen, das unter dem totalitären Sowjetstaat schwer leiden mußte und für Jahrzehnte als Volk aus seiner Heimat vertrieben worden war. Und jetzt werden die dichtbevölkerte Stadt Grosny und mehrere wehrlose Dörfer von Fliegerbomben, Raketen, schwerer Artillerie und Panzerattacken sinnlos zerstört, in Schutt und Asche gelegt. All die von Moskau dirigierten mörderischen Gewalten sind heute nicht nur gegen die freiheitsliebenden Tschetschenen gerichtet, sondern auch gegen Rußland, gegen alle Völker der Russischen Föderation. Das Morden in Tschetschenien ist eine Schlacht im Krieg gegen die russische Demokratie, die ja noch im Entstehen ist und erst begonnen hat, sich zu einem Rechtsstaat zu entwickeln.
Wir treten nicht für Dudajew ein; diesen eitlen Caudillo hat der Angriff der russischen Truppen über Nacht zu einem Nationalhelden hochstilisiert. Sogar seine persönlichen Feinde, die ihn aus Blutrache bekämpften, sind zu seinen Verbündeten geworden und drohen Rußland mit einem „heiligen Krieg“. Sie schwenken schon die Fahnen des islamischen Fundamentalismus. Und ein Krieg in den Bergen des Kaukasus kann zu einer Riesengefahr nicht nur für Rußland und die benachbarten Staaten werden.
Wir sind hierher gekommen, um entschieden zu protestieren und von der Moskauer Regierung zu verlangen, diesen mörderischen und selbstmörderischen Feldzug sofort zu stoppen. Wir wissen, daß die meisten Menschen in Rußland entsetzt und empört sind, daß die russischen Soldaten nicht kämpfen wollen, daß viele russische Offiziere, selbst einige erfahrene Generäle, den Überfall auf Tschetschenien verurteilen. Ich glaube, daß die meisten hier nicht Gegner Rußlands, sondern seine besorgten Freunde sind.
Und ich spreche hier nicht als ein verlorener Sohn Rußlands, sondern als einer, dessen ganzes Leben, Tun und Lassen von dem wahren russischen Geist bestimmt und durchdrungen ist, von dem Geist Lew Tolstojs und Andrej Sacharows, von dem Geist, den heute Sergej Kowaljow verkörpert, der Moskauer Menschenrechtler, der zehn Jahre in Breschnews Straflagern verbrachte, der unermüdlich und selbstlos für die Reformen kämpfte und eine Zeitlang zu Jelzins Ratgebern und Helfern gehörte. Jetzt ist er dort in Grosny im Bombenhagel. Zusammen mit einigen Duma-Abgeordneten und Menschenrechtlern bemüht er sich, die Öffentlichkeit im In- und Ausland über diesen verbrecherischen Krieg aufzuklären.
Heute wage ich hier im Namen meiner deutschen und russischen Landsleute, Freunde und Kameraden zu sprechen.
Die historischen Schicksale von Deutschland und Rußland sind seit mehreren Jahrhunderten untrennbar miteinander verbunden, sind verwandt in Leiden und Hoffnungen, in Irrungen und Träumen – Träumen von Freiheit und Gerechtigkeit. Jedesmal wenn staatspolitische Krisen und ideologische Gegensätze unsere Völker zu Feindschaften und Kriegen verführten, litten beide Völker schwer daran. Doch trotz aller bösen und bitteren Erfahrungen bleibt die Verbundenheit. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir sind füreinander lebensnotwendig. In meiner deutschen Wahlheimat fühle ich mich nicht von Rußland entfremdet, im Gegenteil: Jetzt, angesichts dieser schlimmen, dieser schrecklichen Ereignisse dort fühle ich eine besondere Verantwortung für meine alte Heimat.
Unsere Kundgebung müßte auch vor dem Bundeskanzleramt, vor den Botschaften aller demokratischen Staaten stattfinden. Das Morden in Tschetschenien ist keine innere Angelegenheit Rußlands. Das Unterdrücken der russischen Demokratie ist keine innere Angelegenheit Rußlands. Es geht um die Zukunft Europas, um die Zukunft der ganzen Welt. Wir dürfen nicht unbeteiligte Beobachter bleiben. Alle müssen sich einmischen! Staatsmänner und Diplomaten haben ihre Möglichkeiten, doch sie müssen endlich auf den verhängnisvollen Grundsatz der Nichteinmischung verzichten. Im Fall Tschetschenien ist er nicht nur unmoralisch, sondern auch gefährlich. Politiker, Journalisten, Literaten, Künstler, Sportler, Wissenschaftler, Geschäftsleute – alle Menschen guten Willens, die Partner oder Bekannte in Rußland haben, müssen sich einmischen, so wie Heinrich Böll und Andrej Sacharow es verlangten.
Es muß ein gewaltloser, aber nachdrücklicher und anhaltender Widerstand gegen jegliche Formen der totalitären, menschenfeindlichen, chauvinistischen Gewalten in allen Ländern organisiert und aufgebaut werden, und unsere erste konkrete Forderung an russische, ukrainische und georgische Diplomaten und administrative Strukturen lautet: Straßen frei für humanitäre Hilfe für die notleidenden Menschen im Nordkaukasus, in Tschetschenien, Inguschien, Nord-Ossetien und Dagestan, wo jetzt Hunderttausende von Flüchtlingen – Obdachlose, Verwundete, Kranke, verwaiste Kinder – Zuflucht suchen. Hier in Deutschland sind schon Lebensmittel, Medikamente, medizinische Geräte und Kleidung transportbereit.
Einmischung erwünscht! Hilfe tut not! Lew Kopelew
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