: Ein Profi schafft am Tag fünf Morde
Eine religiöse brasilianische Staatsanwältin macht Jagd auf Todesschwadronen ■ Aus Rio Astrid Prange
Adeus, Terra santa, heiliges Land. Im Rio-Vorort Duque de Caxias lebten Mörder einst wie die Götter. Allmächtig, unantastbar. „Als ich hier vor fünf Jahren anfing, arbeiteten Todesschwadronen für die Justiz“, erinnert sich Tania Maria Sales Moreira. Mittlerweile hat die Staatsanwältin ihren Exkollegen den Heiligenschein entrissen. Dank ihres Einsatzes sitzen 50 Profi-Killer hinter Gittern, weitere zehn Männer harren bis zur endgültigen Verurteilung in Untersuchungshaft aus.
Die 41jährige Staatsanwältin aus Rio de Janeiro hat sich auf Mord und Totschlag spezialisiert. Doch ihre Tätigkeit schlägt ihr nicht aufs Gemüt, im Gegenteil: „Ich wollte unbedingt Staatsanwältin in Duque de Caxias sein. Die Geringschätzung menschlichen Lebens ist hier im Vergleich zu ganz Brasilien exponentiell hoch“, begründet sie ihre Auswahl. 576 Menschen wurden laut einem von ihr zusammengestellten Bericht 1993 in der Stadt umgebracht. 51 Opfer waren Jugendliche unter 18 Jahren. Caxias hat ganze 670.000 Einwohner.
„Ein Profi bringt fünf pro Tag um“, erklärt Sales Moreira, und ein seltsames Lächeln geht dabei über ihre Lippen. Hinter dem Lächeln verbirgt sich die Zufriedenheit, im Kampf gegen die Todesschwadronen die stärkere Position zu besetzen. „Die großen Gruppen sind zerschlagen“, sagt sie und zählt die restlichen fünf Fälle auf, die noch nicht abgeschlossen sind: Paulinho, in Duque de Caxias als „nervöser Finger“ bekannt, verurteilt und geflohen, Georgeao, in U-Haft, Agnaldo, einmal freigesprochen, doch noch in vier weitere Gerichtsverfahren verwickelt, Flavinho und Dino, beide vor dem Haftbefehl auf der Flucht.
„Die neue Generation der Todesschwadronen wird es schwer haben, denn meine Stelle ist unbefristet“, spottet Tania Maria Sales. Es reizt sie, ihre Macht charmant zur Schau zu tragen. „Ein Killer ist kein grausames, blutrünstiges Wesen, sondern ein ganz normaler Mensch. Ich setze mich sogar für ihn ein, wenn er sich über seine Haftbedingungen beschwert“, ironisiert sie.
Der Mythos, daß es sich bei den Todesschwadronen um blutrünstige Monster handelt, behagt Tania Maria Sales nicht. Als Anhängerin der afrobrasilianischen Religion „Candomble“ verweigert sie sich christlichen Denkkategorien wie „gut“ und „böse“. „Ein Mörder ist nicht nur ein Mörder. Er ist mit Sicherheit für viele Personen ein außerordentlich hilfreicher Mensch“, warnt sie vor der Verteufelung der Verurteilten.
Noch mehr Verständnis für die „Justiceiros“, die Unerbittlichen, wie die Todesschwadronen in Brasilien genannt werden, bringt Polizeiwachtmeister Nicolai Mathu aus Duque de Caxias auf. Die Justiceiros seien aufrichtige, fleißige Menschen, die sich um den Frieden in der Gemeinde sorgen würden. Nur Diebe, die unangenehm auffallen, und Vergewaltiger müßten sich vor ihnen fürchten. „In Duque de Caxias reichen ein Paar neue Turnschuhe aus, um sein Leben zu verlieren. Das ist der Kreislauf der Profitsucht“, stöhnt der Beamte.
Der 38er Revolver in seinem Hosenbund vermag an seinem Gefühl der Ohnmacht nichts zu ändern. „Wenn wir uns nicht einen Vorwand ausdenken, um den Täter festzuhalten, leugnet er alles und verläßt binnen kürzester Zeit lächelnd die Polizeiwache, das tut weh“, beschwert sich Mathu über die brasilianische Gesetzgebung seit 1988. Danach dürfen Verdächtige nicht mehr ohne weiteres festgehalten werden. Nur eine Überführung auf frischer Tat berechtigt zur Festnahme. „Das Gesetz steht auf der Seite der Verbrecher, nicht der Opfer“, beschwert sich der Ordnungshüter.
Doch wie auch immer sich die Gesetzgebung in der Praxis auswirkt, was kann man mit 200 Mann und sechs Polizeiwagen in dem 442 Quadratkilometer großen Distrikt schon ausrichten? „Wenn man bedenkt, daß sich im Oktober 1993 auf der Polizeiwache 60 in Duque de Caxias noch 753 Mordfälle aus dem Jahr 1991 aufstauten und für ihre Bearbeitung nur zwei Schreibkräfte zur Verfügung stehen“, schreibt die Staatsanwältin Tania Maria Sales Moreira in ihrem Bericht, „bedeutet dies, daß die Polizei machtlos ist.“
Aufgrund der prekären Arbeitsbedingungen lehnte sie auch den Polizeischutz ab, der ihr rund um die Uhr zusteht. Lediglich auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit läßt sich die Staatsanwältin begleiten. Die Morddrohungen der „Unerbittlichen“, die sich von ihr persönlich verfolgt fühlen, bewirken bei ihr keine Lebensangst.
„Der menschliche Körper ist Teil eines größeren Organismus, der nach dem Tod in kosmische Masse übergeht, die zugleich Leben ist“, erklärt sie. Der Begriff „Sünde“ kommt in der afrobrasilianischen Religion nicht vor. „Im Candomble“, so Tania Maria, „kommt der Mensch perfekt auf die Welt. Er ist ein wandelnder Altar Gottes.“
Trotz der Bemühungen von Tania Maria Sales bleibt die Mehrheit der Kapitalverbrechen in Duque de Caxias, wie die Staatsanwältin selbst in dem von ihr erarbeiteten Bericht feststellt, „ungestraft“. „Was im Bundesstaat Rio de Janeiro bei der Bekämpfung von Todesschwadronen erreicht worden ist, ist allein auf individuelle Bemühungen zurückzuführen, nicht auf die Unterstützung seitens des Staates“, meint die 41jährige.
Die amerikanische Menschenrechtsorganisation „America's Watch“ bestätigt die Einschätzung der Staatsanwältin. Zwischen 1988 und 1991, so America's Watch, wurden in Brasilien 5.644 Kinder und Jugendliche umgebracht. 90 Prozent der Fälle seien bis heute nicht aufgeklärt. „Einige Bundesstaaten, zum Beispiel Rio de Janeiro, gehen erfolgreich gegen Todesschwadronen und Polizeigewalt vor“, lobt die Menschenrechtsorganisation. Doch für eine effektive Bekämpfung des Problems sei eine Mobilisierung auf Bundesebene notwendig. „Denn die Polizei“, heißt es in dem Bericht, „ist unfähig, die ärmeren Bevölkerungsschichten zu beschützen. Im Gegenteil, häufig befinden sich die Kindermörder in ihren Reihen.“
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