■ Ein gehöriger Gesichtsverlust
: Jelzin scheint sich heute in einer ähnlichen Lage zu befinden wie Gorbatschow im August 1991: Er wird von Beratern zunehmend isoliert und desinformiert. Ob die Kraft der interessierten Kreise für einen...

Jelzin scheint sich heute in einer ähnlichen Lage zu befinden wie Gorbatschow im August 1991: Er wird von Beratern zunehmend isoliert und desinformiert. Ob die Kraft der interessierten Kreise für einen Putsch ausreicht, ist allerdings fraglich.

Ein gehöriger Gesichtsverlust

Mit jeder weiteren Schlappe der russischen Truppen in Grosny häufen sich Zweifel an der Handlungsfähigkeit Präsident Jelzins. Immer deutlicher werden die Vermutungen, irgend jemand führe ihm die Hand. Otto Lazis, Kommentator der angesehenen Zeitung Iswestija und selbst Mitglied des präsidentialen Beraterstabs, analysierte gestern einige Details, die die These einer möglichen Isolation Jelzins erhärten könnten. Anhand eines Dekrets, das kürzlich den Bürgermeister Wladiwostoks aus dem Amt entfernte, zeigte Lazis auf, daß der Präsident nicht einmal über Hintergründe informiert sein konnte, die sich selbst der Tagespresse entnehmen lassen. Der Bürgermeister war nämlich schon abgesetzt – durch den Gebietsgouverneur.

Andererseits, sagt Otto Lazis, unterschreibe der Präsident keinen Ukas ungelesen. Dafür gebe es bisher keinen einzigen Präzedenzfall. Die Situation ähnele also jener in den Tagen vor dem Augustputsch gegen Gorbatschow. Auch damals haben die engsten Vertrauten den Präsidenten isoliert, desinformiert und den Zugang Andersdenkender verhindert. Jelzins Fernsehansprache über Tschetschenien zeugte ebenfalls von Unkenntnis der Sachlage durch einseitige Information.

Der immer größere Einfluß General Alexander Korschakows auf den Präsidenten ist kein Geheimnis mehr. Der Chef seiner Leibgarde hat Zugang zu praktisch allen Informationen. Kürzlich hat ihn Jelzin zum Chef einer viertausendköpfigen Spezialeinheit erhoben, die nur ihm untersteht. „Er ist mächtiger als Viktor Tschernomyrdin“, Rußlands Premierminister, meinte Pawel Woschtschanow, ein ehemaliger Pressesekretär Jelzins, der vor zwei Jahren vornehmlich wegen Korschakow aus dem Amt schied.

In den letzten Wochen hat sich der einstige KGB-Offizier offen in die Wirtschaftspolitik eingemischt, als Lobbyist der Ölindustrie. Er untersagte dem Premier die Freigabe der Ölexportquoten. Aus den Details, die in einem entsprechenden Schreiben an Tschernomyrdin Erwähnung fanden, läßt sich entnehmen, daß Korschakow über beste Beziehungen zu Oleg Soskowez verfügen muß, dem Viezepremier und Steigbügelhalter des militärisch-industriellen Komplexes (MIK). Womöglich ist er ihr Mann beim Präsidenten.

Die Vertreter dieser Clique aus Rüstungsbossen und Teilen der Generalität gehören zu den eigentlichen Gewinnern des Tschetschenien-Feldzugs. Die Putsche 91 und Oktober 93 schlugen fehl, mit dem jetzigen Krieg haben sie bereits weit mehr erreicht, und das ungeachtet des Verlaufs des Kriegsgeschicks. Die Auftragslage bessert sich. Ihr Einfluß wird größer: Nicht zuletzt gelang es ihnen, den Präsidenten von den liberalen Kräften zu entfremden und sein demokratisches Image zu demontieren. Sie wollen nicht zurück zur kommunistischen Kommandowirtschaft, eher steuern sie einen „regulierten Kapitalismus“ an. Die Rüstungsindustrie darf ruhig privatisiert werden – solange sie an den richtigen Stellen bleiben. Von demokratischer Öffentlichkeit möglichst ungestört möchten sie sich die Taschen selbst vollstopfen. Inwieweit sie dafür beim Militär Bündnispartner und Handlanger finden, bleibt abzuwarten.

Trotzdem spricht einiges gegen einen Putsch wie 91. Der Kriegsverlauf hat die Schwächen der Armee offen gezeigt. Weder handelt sie wie ein monolithischer Block, noch herrscht in ihr Disziplin, von Solidarität gar nicht zu sprechen. Verschiedene Lager kämpfen um Kompetenzzuwachs. Durch Grosny wird die Armee einen erheblichen Prestigeverlust erleiden. Eine schlechte Ausgangsbedingung, um darauf ein autoritäres Regime zu errichten.

Bei Neuwahlen, dem erfreulichsten Ausgang der Krise, würden Hardliner und selbsternannte Kommißköppe wie Schirinowski vielleicht sogar schlechter abschneiden als noch vor Jahresfrist. Maulhelden gibt es schließlich genug. Darüber hinaus setzt ein Coup eine Bevölkerung voraus, die sich einschüchtern läßt.

Wenn dieser Krieg aber etwas Positives zutage gefördert hat, dann das Engagement einer freien Presse, die trotz aller Behinderungen durch Staat und Bürokratie deren plumpe und dumme Propaganda Lügen gestraft hat. Ein gehöriger Gesichtsverlust für die revanchistischen Kräfte. Allmählich regen sich auch die anderen Ebenen der Gesellschaft.

Sollte der MIK mit Hilfe bestimmter Segmente der Armee tatsächlich die Herrschaft ergreifen, wäre das darum sicherlich von kurzer Dauer. Denn die alten Herren haben keine Ressourcen zur Verfügung, die ihr System über längere Zeit stabil erscheinen lassen könnten. Um das auszugleichen, müßten Rußlands Regionen wieder schärfer zur Ader gelassen werden. Schon heute ist das beinahe unvorstellbar. Und daß diese Figruen ineffektiv sind, haben sie ja schon unter Breschnew bewiesen. Rußlands Weg ist offen, doch führt er nicht zwangsläufig zurück in die Dunkelheit. Klaus-Helge Donath, Moskau