Mit Kamera und Roter Fahne

■ Bis morgen zeigt die Lichtbild Galerie in Worpswede Fotos von Jewgeni Chaldej / Der Autodidakt hat 60 Jahre sowjetische Geschichte fotografiert / Portrait eines Zeitzeugen

9.07 Uhr Abfahrt, Berlin Zoo.

13.21 Uhr Ankunft, Bremen. Zwei Männer und eine Frau sind unterwegs. Ein Großvater-, ein Bohemetyp und eine dunkelrot gefärbte Mitdreißigerin, der Moderator wird sie später Ingrid nennen, als kennen sie sich schon eine Ewigkeit. Ihr Reiseziel: das Fernsehstudio von Radio Bremen, die Talk-Show „3 nach 9ß. Giovanni di Lorenzo: Er könne einen Mann vorstellen, dessen Bilder ein Jeder kennt, der selbst aber unbekannt ist. Die Kamera schwenkt über den alten Herren und verharrt dann am Bauch. Da baumelt eine Kamera – ein Fotograf. Jewgeni Chaldej, 78, ist weitgereist. Von Moskau via Berlin in die Hansestadt. Ein paar Sätze darf er in Deutsch sagen, dann springt die Dolmetscherin Ingrid ein und baut eine Brücke zum Dritten in der kleinen Runde – dem Agenten, für dessen Selbstdarstellung. Schließlich habe er den Fotografen entdeckt im fernen Moskau, ihn mit den weltbekannten Fotos, z. B. vom Reichstag in Berlin am 2. Mai 1945: Ein russischer Soldat hißt die rote Fahne. Die Stunde der Niederlage des einen, ist die Stunde des Sieges des anderen. Vielleicht hat sich an dieser Stelle schon ein Großteil der Bundesbürger von der geschichtsträchtigen Television verabschiedet. Haben die Russen nicht gerade Deutschland verlassen? Wer ist der Sieger, wer der Verlierer?

22. Juni 1941, vormittags. Der junge TASS-Fotoreporter kommt von einer Dienstreise zurück. Der Wirt des Wohnhauses, in dem er ein Bett gemietet hat – Wohnungen waren zu allen Zeiten in Moskau Mangelware – teilt ihm mit, er habe sich umgehend in der TASS-Zentrale einzufinden – mit Kamera. In der Redaktion ist die Stimmung gedrückt. Chaldej erfährt, daß um 12.oo Uhr Mittag über alle Sender der Sowjetunion eine Regierungserklärung abgegeben wird. Nicht Stalin, Molotow spricht: „Heute morgen um 5.oo Uhr haben deutsche Truppen unsere Grenzen von Murmansk bis zum Schwarzen Meer ohne Kriegserklärung über- schritten. Kiew, Minsk, Brest, Sewastopol werden bombardiert ...“ Chaldej nimmt die Kamera und geht auf die Straße. Überall haben sich Menschengruppen um die öffentlichen Lautsprecher gebildet. Ungläubig, erstaunt, erschreckt starren die Gesichter in die Höhe, woher die unsichtbare Stimme ihnen die ungeheuerliche Botschaft mitteilt – das erste Foto des Krieges von Jewgeni Chaldej.

Von einer Stunde zur anderen wird aus dem Pressefotografen ein Kriegsberichterstatter. Murmansk ist sein erster Einsatzort, eine Hafenstadt, der nördlichste eisfreie Hafen der Sowjetunion, von strategischer Bedeutung. Als er dort eintrifft, gleicht die Stadt einer Trümmerwüste. 50 Meter Film im Gepäck hatte ihm der TASS-Chef bewilligt, denn in 14 Tagen würde der Spuk ohnehin vorbei sein. Ruinen, umherirrende Menschen. Chaldej fotografiert. Auch eine alte Frau, die beladen mit den letzten Habseligkeiten sich mühsam einen Weg sucht. Als sie den Fotografen sieht, hält sie inne und beschimpft ihn: „Schäm dich, mich in meinem Elend zu fotografieren!“. „Mütterchen“, verspricht er damals, „ich werde auch die, die so viel Elend über dich gebracht haben, in ihrem Elend zeigen.“ Nach 1414 Tagen löst er sein Versprechen ein – in Berlin.

Im Stapel der vor uns liegenden Bilder sind die Aufnahmen nicht gleich zu finden. Seine kräftigen Hände schieben die Fotos solange hin und her bis zwei nebeneinander liegen: was einst Wohnhäuser waren sind Ruinen, davor zwei Frauen, Kopftuch, dunkler Mantel, Gram gebeugt – eine Russin und eine Deutsche – sie gehen aufeinander zu.

Zufall? Zwei Fotos, ein Schicksal. Chaldej reibt sich die Augen, rückt die Brille wieder zurecht lehnt sich zurück und fragt nachdenklich in einwandfreiem Deutsch: „Warum Krieg, warum Krieg...?“ Immer und immer wieder stellt er die Frage. Meist in Form eines Selbstgespräches, als erwarte er darauf keine Antwort. Wer könnte sie ihm auch geben? Warum schlagen sich Teschetschenen und Russen die Köpfe ein, warum morden die Serben die Bosnier, warum rotten sich Tutsis und Hutus in Ruanda aus, warum...? Chaldej schüttelt den Kopf. Gab es nicht schon genügend Leid auf Erden? Allein 5o Millionen Tote gehen auf das Konto des II. Weltkrieges. An vielen Frontabschnitten, ob im hohen Norden, bei Murmansk, im Süden, am Schwarzen Meer, ob in Rumänien, Bulgarien, Jugos lawien, Österreich, Deutschland – überall begegnete ihm Vernichtung und Tod. Über 3o. ooo Kilometer legte er mit der Roten Armee zurück. Über verbrannte Erde und Leichenfelder führte der Weg. Mit dem Torpedoboot durchpflügte er das Schwarze Meer, mit einem Tupolew-Bomber flog er auf Bukarest zu, mit dem legendären T-34-Panzer rollte er über die Seelower Höhen. Die rote Fahne war immer im Gepäck. In Berlin hißte er sie und fotografierte – als Erster, als Sieger. Wie zum Beleg streicht seine Hand über den Jackenaufechlag. Er ist voller Orden, Orden wie sie Befreiern nach Entscheidungschlachten an die Brust geheftet wurden.

Kein falsches Pathos liegt in der Stimme, der Stolz als Chronist dabei gewesen zu sein, seinen Landsleuten und der Welt den Vormarsch der Roten Armee dokumentiert zu haben ist nicht zu überhören. In Lebensgefahr war er mehrere Male, verwundet wurde er nie, jedenfalls nicht im Krieg. 1918, Jewgeni Chaldej ist ein Jahr alt, genau so alt wie die neue Ordnung auch: die Bolsche wiki haben den Zar gestürzt, Bürgerkrieg zerreißt das Land. Das kleine Dorf, in dem er geboren wurde, bleibt nicht verschont. Eine Kugel streift Jewgeni, tötet die Mutter. Die erste Narbe antijüdischer Verfolgung, weitere werden ihr folgen. Sein Vater und seine Geschwister werden 1942 bei Donezk lebendigen Leibes in ein Massengrab gestoßen – von Deutschen.

Als wolle er es mit der sachlichen Darstellung seiner leidvollen Erfahrungen bewenden lassen, wechselt der 78-jährige abrupt das Thema. Seine Hand wühlt im Stapel der Bilder und zieht ein Foto hervor: „Mein Lieblingsfoto“. Eine junge Frau in Uniform, kleine Fähnchen schwingend. Sie reguliert den Strom der russischen Militärfahrzeuge. Im Hintergrund: ein Richtungsweiser mit der Aufschrift „Berlin“ - in kyrillischen Buchstaben.

Wie oft mag Chaldej dem Tod ins Angesicht gesehen haben? Doch wo sind die Fotos der von Panzer überrollten, der von der Granate Zerfetzten, der durch die MG-Salve Durchsiebten? „Nein, keine..“. Chaldej sonst immer wortgewandt und welterfahren, wird wortkarg, „Nein, keine..“ Das Gesicht, offen und freundlich, versteinert. Die Hände fahren in den Stapel der Bilder und schichten ihn um. Vielleicht liegen sie zu Hause in Moskau, in seiner 1-Zimmer-Wohnung, die Schlafstätte, Aufenthaltsraum, Labor und Archiv in einem ist? Kopfschütteln. „Ist der Krieg als Krieg nicht grau- sig genug?“ Pause. Und dann noch leiser als zuvor: „Der Tod gehört den Toten. “

Chaldejs Reise in die Vergangenheit wird eine Konfrontation mit der Gegenwart. Er ist gefragter Interviewpartner im Potsdammer Schloß Cecilienhof. An historischer Stätte, wo einst Truman, Churchill und Stalin das Schicksal des besiegten Deutschland besiegelten, präsentiert er vor der Presse sein Buch „Von Moskau nach Berlin“. Er stand den Mächtigsten der Welt damals als TASS Korrespondent ganz nahe.

Diesmal wird er auf dem Platz fotografiert, den einst Stalin inne hatte. Er signiert und erzählt Geschichten über Stalin. Jedesmal wenn er den Konferenzraum betrat, standen die anderen artig wie die Schulbuben auf. Bis Churchill dem amerikanischen Präsidenten einschärfte, am nächsten Morgen sitzen zu bleiben. Am nächsten Tag kommt Stalin, überblickt die Szene und verharrt stumm am Eingang. Wie immer erheben sich Trumann und Churchill, Stalin setzt sich.

Man merkt es Chaldejs Erzählweise an, einen Rest Verehrung hat er für den „größten Sohn der sowjetischen Völkerfamilie“ bewahrt. Ein Stirnrunzeln von ihm konnte Lagerhaft, Tod oder Ungnade bedeuten. Das Schicksal eines Millionenvolkes lag in seiner Hand. Auch das seiner engsten Kriegsmitstreiter, z. B. des Helden der Sowjetunion, Marschall Shukow.

Eine Intrige wird gesponnen, um den Befreier von Berlin „vom Sok- kel zu holen“. Belastendes Indiz: ein Foto Chaldejs. Es zeigt den Feldherren bei einer Parade auf einen Schimmel, in dem Moment, da alle vier Hufe in der Luft sind. Neider werfen Shukow Anmassung vor – ein Marschall,

der schwebt. Fortan wird er im Kreml gemieden.

„Wenn schon mit einem so verdienstvollen Mann wie Shukow so umgegangen wird, warum sollte ich dann verschont bleiben?“ Mehr als einmal nur hat Chaldej diesen ergebungsvollen Stoßseufzer von sich gegeben. Wenn antisemitische „Säuberungen“ in den Medien, Kulturinstitutionen oder im Staatsapparat angesagt waren, mußte er fürchten, entlassen zu werden. Zweimal war das der Fall. Dennoch fiel der ordengeschmückte Parteifotograf nie ins Bodenlose. Einflußreiche Freunde verhalfen ihm wieder zum Neuanfang.

Bis 1988 war er Fotoreporter der „Prawda“. Die Parteichefs, Kosmonauten, die bedeutendsten Maler, Schriftsteller, Schauspieler des Riesenlandes standen vor seiner Kamera. Die umworbenen und gefeierten Gäste der einstigen Supermacht sind auf Fotos von Chaldej verewigt: von John F. Kennedy bis Gina Lollobrigida, von Fidel Castro bis John Steinbeck. 6.ooo Fotos bewahrt er in seinem Privatarchiv auf. Ein Sammelsurium von Bildern. Auffällig ist dabei, daß die Kamera Chaldejs nie voyeuristisch oder verletzend ist. Der Autodidakt hat die pathetische Bildersprache gemieden: Keine Helden- verehrung, sondern direkt und autentisch. Selbst den Kriegsfotos ist Chaldejs Ästhetik eigen. Der Beruf ist sein Leben. Wer ihm die Vergangenheit nehmen will, nimmt ihm sein Lebenswerk.

Geboren im Jahr des „Roten Oktober“ 1917, erlebt er Aufstieg und Fall des Sozialismus. Er ist Zeuge einer ganzen Epoche, aÜs Partei- chronist unlösbar mit ihr verbunden: in den Zeiten, da die Sowjetunion als Supermacht gefürchtet war, als der Koloß zerbrach und nun da das auseinanderdriftende Imperium sich dem Westen öffnet. Wechselfälle der Geschichte im Leben eines einzelnen. Einer Geschichte, die immer wieder umgeschrieben wurde und wird. Läßt sich auch das Leben umschreiben? Halb belustigt, halb resigniert antwortet Chaldej: „Was habe ich schon erlebt, wen habe ich überlebt. Stalin, heute ein Scheißkerl, Chrustschow und Breshnew Scheißkerle, ihre Nachfolger nicht besser.“

Heiner Noske