Land der ehrbaren Menschen

Eine Reiseerzählung aus dem westafrikanischen Staat Burkina Faso  ■ Von Manfred Loimeier

Mit dem Sonnenuntergang um halb sieben füllen sich in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou die Freilichtkinos. Im „Cine Oubri“ drängen sich auf den hinteren Reihen mit den metallenen Klappstühlen schon die Zuschauer, während die vorderen Holzbänke noch reichlich Platz bieten. Zwischen den Ästen der Palme links vorne schimmert ein Stückchen Milchstraße hindurch, und von rechts fällt der Schein einer Straßenlaterne über die Kinomauer. Dann kündigt ein lautes Knistern den baldigen Beginn der Vorführung an, und der kräftige Strahl des Projektors wirft ein weißes Rechteck auf die Leinwand. Das Rascheln und Murmeln im Publikum verstummt, als der Vorspann des Films den Kinoabend in der trockenen lauen Luft unter dem freien Himmel Westafrikas einleitet.

Seydou aus dem Volk der Senufo wurde in dem Dorf Kánkalaba geboren; es zählt zum Regierungsbezirk Comoe im Südwesten Burkina Fasos. Seydous Eltern verließen das Dorf nahe der Grenze zu Mali und zur Elfenbeinküste und zogen in die Bezirkshauptstadt Banofra. Dort fand Seydous Vater Arbeit. Als der Vater starb, wuchs Seydou bei seinem Onkel auf, und so kam es, daß aus Seydou ein Fischer am See von Tengrélá wurde. Obwohl das lange her ist, besucht Seydou noch immer seine Verwandten in Kánkalaba; dann steigt er auf den Téna Kourou, den höchsten Berg Burkina Fasos, und genießt es, von dort in die abfallende, weite Senke der Wüste Malis zu blicken. Oder er wandert zu den Bergspitzen von Sindou, einem bizarren Gebirgszug, dessen Felskegel – Schauplatz zahlreicher Legenden – der Wind aushöhlte. Einmal aber fuhr Seydou, der Fischer am See von Tengrélá, einige Fremde mit seinem Boot auf den See hinaus. Das war nicht neu, denn immer wieder kamen Reisende vorüber, die die Flußpferde im See aus der Nähe zu sehen wünschten. Dieses Mal aber hatten die Fremden merkwürdige Geräte dabei, und Seydou mußte mehrmals hin- und herpaddeln, ohne daß es den Fremden um die Flußpferde gegangen wäre. Auch zu den Elefanten in den Busch wollten sie nicht. Sie wollten einen Film drehen, erklärten sie Seydou und sagten, daß ihr Film bei den Festspielen in Ouagadougou gezeigt werde. Seit damals träumte Seydou von den Filmfestspielen in Ouagadougou.

Nach der jüngsten Regenzeit war es soweit. Seydou zog sein Boot in das Gebüsch am See von Tengrélá und verließ den Ort. Über die klobige Holzplankenbrücke nahm er den Weg zu den verzweigten Wasserfällen von Karfiguela und durchquerte die weiten Zuckerrohrfelder im Norden Banforas. Er folgte der Berghöhe von Banfora und sah, wie die Frauen in den Dörfern Hirse stampften, er sah sie im Tal Wäsche waschen, und er bemerkte die Zeichnungen, die frühe Bewohner in den Felsen hinterlassen hatten. Alleen, die noch die französischen Kolonialherren zum Schutz ihrer Soldaten gepflanzt hatten, spendeten ihren Schatten nun Seydou, als er die Straße durch den Busch nahm, vorbei an brandgerodeten Flächen, vereinzelten Bananenpflanzungen und hohen Termitenhügeln. Seydou war froh, als ihn vor Einbruch der Dunkelheit ein Mann einlud, in seinem Gehöft zu nächtigen. Das viereckige Haupthaus aus Lehmziegel überragte deutlich die Rundhütten mit Küche und Werkstatt sowie die aus Stroh geflochtenen runden Getreidekörbe und Vorratsspeicher.

Ein Tagesmarsch, erklärte ihm sein Gastgeber am nächsten Morgen, sei es noch bis Bobo-Dioulasso, der Stadt mit den breiten Alleen, dem großen alten Markt, den Restaurants und Kneipen, den Hotels und Cafés, den mehrstöckigen Häusern und den Verwaltungsgebäuden im sudanesischen Baustil. Spät am Nachmittag trat Seydou auf einer Anhöhe aus dem Busch und erblickte zu seinen Füßen die Stadt Bobo-Dioulasso. Wegen der offenen Feuer an den Straßenrändern, wo man Abfall verbrannte oder Hammelfleischspieße grillte und wegen der Abgase der zahlreichen Mopeds hatte sich über Bobo-Dioulasso eine Rauchwolke gebildet, die bis tief in die Straßen der Stadt hing und in die Nase biß. Ziegen liefen auf den Nebenstraßen herum, Männer hockten in offenen Abwassergräben und verrichteten ihre Notdurft, Jungen schoben Wasserfässer auf Handkarren nach Hause, Fledermäuse segelten durch die herabsinkende Nacht. An der Ampel einer Straßenecke standen junge Frauen und fragten Seydou, ob er mit ihnen gehen möchte.

Seydou verbrachte mehrere Tage in Bobo-Dioulasso. Mit einem Mofa fuhr er zu der Quelle „La Guingette“, die der Stadt Bobo-Dioulasso nicht nur das Trinkwasser liefert, sondern die sich auch schön zum Baden eignet. Er fuhr zu dem Flußpferdteich im Norden Bobos – wie auch er die Stadt bald liebevoll nannte –, und er freute sich, an den See bei Tengrélá erinnert zu werden. Er nahm den weiten Weg auf sich, um die Kaskaden des Schwarzen Volta zu sehen, der zusammen mit dem Weißen und dem Roten Volta für den früheren Staatsnamen Obervolta verantwortlich war, den der Staat Burkina Faso, das „Land der ehrbaren Menschen“, bis zu seiner Umbenennung 1984 trug.

Seydou gönnte es sich, in einem Café mit Messer und Gabel Buttercremetorte zu essen. Er ließ sich die Zeit, um durch die Stadt zu streunen und sich über die vielen Fahrradwerkstätten zu wundern, um durch das alte Viertel mit den engen Gassen und ineinander geschachtelten Lehmhäusern zu schlendern, um die Moschee zu besichtigen, deren Bauweise weithin gerühmt wird, und um schläfrig Träumereien nachzuhängen oder abends Hirsebier zu trinken, während ein kleiner Junge im Lichtschein einer Straßenlaterne in einem Schulbuch las.

Dann hörte Seydou von dem bevorstehenden prunkvollen Maskenfest in Pouni zwischen Bobo- Dioulasso und Ouagadougou. Zu Ehren der im Vorjahr Verstorbenen würden Männer dort mit Holzmasken, die die Seelen ihrer Ahnen darstellten, die bösen Geister verjagen, die den Weg ins Paradies versperrten. Mit Stöcken und furchterregenden Gebärden schlügen die Maskenträger die bösen Geister in die Flucht. Selbstverständlich verließ Seydou für dieses Spektakel Bobo-Dioulasso.

Mit bunten zotteligen Gewändern bekleidet, sprangen die Männer über den Festplatz in Pouni, und manche der Maskierten trugen regelrecht Bretter auf dem Kopf die mit schwarz-weißen Mustern aus Dreiecken und schachbrettartig angeordneten Quadraten verziert waren. Manche dieser Bretter hatten die Gestalt einer Schildkröte oder eines Krokodils, aber es gab auch buschige Masken, die Löwenköpfe darstellten, oder Masken aus Holz, die dem Haupt einer Antilope glichen. Wild hüpfend und mit Hilfe ihrer Stöcke hochspringend, sich zuweilen sogar überschlagend, tanzten die Männer umher, warfen sich auf den Boden, stoben mit ihren Füßen den Sand auf, kreisten wirbelnd um sich selbst und gerieten im Eifer des Tanzes manchmal auch aneinander, so daß sie auf die Erde kullerten und Hilfe benötigten, um sich wieder orientieren zu können.

In der Straße zum Ort verkauften Frauen Gebäck und Getränke, standen Menschengruppen im Schatten der Bäume beisammen, unterhielt man sich über die Masken, die Tänzer und die vielen Besucher – und darüber, daß Seydou, wenn er hier fremd sei, auch am See der Krokodile die beiden dicken Reptilien von ganz nah anschauen müsse. Das eine Krokodil liege stets faul am Ufer, erzählte man ihm, und das andere halte sich am liebsten im flachen Wasser auf und lasse sich nur mit einem toten Huhn als Köder emporscheuchen. Seydou war dann aber etwas überrascht, als er am Seeufer Eintritt zahlen sollte, doch angesichts des weit geöffneten Mauls des einen schlafenden Krokodils wandelte sich seine Verwunderung in Bewunderung.

Es war ein Freitagmorgen, als Seydou schließlich Ouagadougou erreichte. Sogleich eilte er zu der wöchentlichen Feierlichkeit vor dem Palast des Mogho Naaba, des Königs der Mossi, die seit dem 12. Jahrhundert im Herzen Afrikas beheimatet sind. Zur Ehrerweisung am Freitagmorgen fahren die Chefs aus den umliegenden Mossi-Dörfern mit Fahrrädern, Mofas, Mopeds oder Autos vor den Palast am Rand des Zentrums von Ouagadougou.

Die Zeremonie geht auf eine alte Überlieferung zurück: Einst soll der König seiner Frau erlaubt haben, ihre Eltern für drei Tage zu besuchen. Als sie danach nicht zurückkehrte, hieß er ein Pferd satteln, damit er sie holen könne. Doch die Dorfältesten eilten zum Palast und baten den König, die Regierungsgeschäfte nicht zu vernachlässigen. In Erinnerung daran knien die Dorfchefs seither mit hübschen blauen oder weißen Gewändern, bestickten Kappen und kurzen verzierten Schwertern jeden Freitagmorgen im Sand und beschwören unterwürfig gestikulierend den König zu bleiben. Doch der wartet in einem Stuhl sitzend, bis das bereitstehende Pferd mit der roten Decke gesattelt ist. Die Bittsteller wiederholen aber einzeln ihr Anliegen, bis mehrere Böllerknaller schließlich verkünden, daß der König der Mossi sein Volk wegen seiner saumseligen Frau nicht im Stich lassen wird.

Es war Ramadan in Ouagadougou. Einige mit hellem Lehm geschminkte Kinder, die als schwangere Frauen oder gebrechliche Alte oder als Jäger mit Pfeil und Bogen verkleidet waren, zogen tanzend durch die Straßen der Stadt. Einst soll nämlich ein Jäger das Verbot des Königs mißachtet haben und an einem Freitag jagen gegangen sein. Man fand den Jäger im Wald in ein Wesen halb Mensch halb Tier, mit langem Schweif, verwandelt. Als man den Jäger nach Hause brachte und er mit seinem Aussehen die Anwohner belustigte, befahl der König, ihn einzusperren und nur während des Ramadan ausnahmsweise freizulassen. Daran erinnern die verkleideten Kinder, die wie Dodo, der verwandelte Jäger, die Menschen auf der Straße erheitern – und dabei auf eine Spende hoffen.

Seydou sollte aber noch weiter ins Staunen geraten. Da waren die vielen Geier über der Stadt, die in den Vormittagsstunden ungehindert in Abfällen herumstöberten, und die vielen Mofafahrer und Fußgänger, die gegen den auffliegenden rotfarbenen Sand der ungeteerten Straßen einen Mundschutz trugen. Da waren die Mädchen, die englisch sprechen konnten und zahlreich vor teuren Hotels warteten, und da waren bisweilen die Parolen noch lesbar, die von der vergangenen Revolution zeugten: „Der Kampf gegen den Imperialismus ist eine Schlacht jeden Augenblicks“, „Kämpfen wir gegen den Rassismus“. In den Straßen mit Namen wie Avenue Ho Chi Minh oder Avenue Charles de Gaulle diskutierte man über die vergangenen niedergeschlagenen Studentenunruhen. An Buden und Ständen verkaufte man Lotterielose, Holzfiguren, Schmuck, Kosmetikartikel, Lederwaren, Körbe, Kleider, Stoffe, Geschirr und Musikkassetten mit Reggae, Rap und Lambada. Jungen schoben Getränkekarren vor sich her und boten Erfrischungen feil. Auf dem Markt gab es Gemüse, Salat, Ananas, Karotten, Zitronen, Tomaten, Fleisch.

Abends, als nach einem überraschenden, kaum Kühlung bringenden Regenguß der Lufthauch des Ventilators im Zimmer lau über den Körper strich, als der Propeller in das Licht der Glühbirne einen wandernden Schatten warf und sich ein Gecko aus seinem Versteck wagte – da roch es von der Straße hoch wieder nach Holz und Rauch, und über den Feuern grillte man Fleischspieße. Man sprengte die staubigen Fahrbahnen mit Wasser, man stellte Stühle und Tische vor Eckkneipen und Bars, aus denen das Licht der Neonröhren blau, rot, grün oder gelb leuchtete.

Dann, mit dem Sonnenuntergang um halb sieben, füllten sich in Ouagadougou die Freilichtkinos. Im „Cine Oubri“ drängten sich auf den hinteren Reihen mit den metallenen Klappstühlen schon die Zuschauer, während die vorderen Holzbänke noch reichlich Platz boten. Zwischen den Ästen der Palme links vorne schimmerte ein Stückchen Milchstraße hindurch, und von rechts fiel der Schein einer Straßenlaterne über die Kinomauer. Dann kündigte ein lautes Knistern den baldigen Beginn der Vorführung an, und der kräftige Strahl des Projektors warf ein weißes Rechteck auf die Leinwand. Das Rascheln und Murmeln im Publikum verstummte, als der Vorspann des Films den Kinoabend in der trockenen lauen Luft unter dem freien Himmel Westafrikas einleitete.