Rastlos auf der Suche

Das Wort des Jahres 1994 ist schon vergessen. Ein Vorschlag zur Güte für das Wort des Jahrzehnts  ■ Von Wilhelm Schmid

Schon wieder haben wir's amtlich, was das Wort des Jahres war: „Superwahljahr“. Höchste Zeit, einen eigenen Vorschlag einzureichen, was das Wort des Jahrzehnts werden könnte. Dieses Wort, diese inflationär gebrauchte Formel nämlich gibt am besten wieder, was unsere Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts ist. Irgendwie, kann man sagen, sind wir dabei, die Fassung zu verlieren. Der gewohnte Rahmen des Lebens geht verloren, die Formen lösen sich auf, auf nichts kann man sich mehr verlassen, die Katastrophen nehmen kein Ende, die Geister der Vergangenheit kehren zurück. Was soll man da tun? Genau das weiß eben keiner. Jeder will nur eines: raus hier. Was könnte diesen Zustand besser charakterisieren als die simple Aussage, auf der Suche zu sein! Es ist genau diese Formel, die zum Motto der neunziger Jahre zu werden scheint, von überall her leuchtet sie uns entgegen: „Auf der Suche ...“ Auf der Suche wonach? Das ist ganz und gar sekundär. Wichtig ist die Sache selbst, die Suche. Man sieht die Menschen förmlich auf den Boden starren, um irgend etwas zu finden, von dem sie selbst nicht wissen, was es ist. Man sieht sie in die Weite blicken, etwas Imaginäres im Visier. Und es werden immer mehr, ganze Gruppen bilden sich schon – man kennt ja dieses Phänomen: Einer sucht angestrengt den Himmel ab, und schon gesellen sich ihm einige Suchgenossen zu; denn wo einer so definitiv blickt, muß doch auch irgendwas zu sehen sein, was es sonst nicht gibt ... Das grundlegende Problem ist nur: Was man sucht, das sieht man nicht, denn wenn man es sähe, suchte man es nicht. Ja, man kann sich nicht einmal sicher sein, daß es das, was man sucht, auch wirklich gibt.

Aber ich sollte mich nicht so sehr darüber lustig machen, daß da nun so viele „auf der Suche“ sind. Nicht nur, weil es eine ernste Angelegenheit ist, sondern weil ich selbst einer von ihnen bin. Ja, ich bekenne es, auch ich bin ein Suchender. Zuerst war es nur ein Aufsatz, dem ich so einen Titel gab, und das war schon Mitte der achtziger Jahre, insofern gehöre ich zur Avantgarde, wenn man mal vom Neandertaler der Suchbewegung, Marcel Proust, absieht, der sage und schreibe schon ab 1913 mit seinem Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auf den Markt kam, eine echte Frühgeburt. An seinem Werk kann man allerdings ablesen, was typisch für den Suchdiskurs zu sein scheint: Er hat die Tendenz auszuufern. Auch bei mir wurde aus dem Aufsatz bald ein Buch, und ich gab ihm in Anklang an Proust den Titel: „Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst“. Nicht sehr einfallsreich, ich weiß. Aber wirkungsvoll.

Damit zeigt sich bereits zweierlei, wonach gesucht wird: die verlorene Zeit, das versteht jeder, und die neue Lebenskunst, von der sich keiner eine Vorstellung macht, die aber viele suchen, weil es so nicht mehr weitergehen kann. Irgendwie muß man Antworten finden auf die Herausforderungen unserer Zeit; sich nur den Formlosigkeiten der Informationsgesellschaft anheimzugeben, reicht nicht aus; und Lebenskunst, nicht wahr, das klingt so leicht und beschwingt, wie wir das Leben gern hätten, zumal in dem Morast, in dem wir nun stecken. Und zuletzt geht es überhaupt nicht um „Lebenskunst“, sondern nur darum, wenigstens „etwas zu machen“, nicht untätig zu sein, sondern „auf der Suche“ zu sein.

Ich will es das Such-Syndrom nennen. Wohin wir wollen, haben wir aus den Augen verloren. Nun versuchen wir wie ein Spürhund, Witterung aufzunehnmen, um wenigstens noch eine Spur von dem zu erhaschen, was wir da verloren haben. Was wird da nicht alles gesucht! Das Banale ebenso wie das Elementare. André Gorz ist „Auf der Suche nach der freien Zeit“ (taz vom 16.8.94). Andere sind „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ (Buchtitel). In der Soziologie ist man schon seit zwei Jahren „auf der Suche nach einer neuen Kultursynthese“ oder auch „auf der Suche nach dem Religiösen“. In diversen Erörterungen sind die Zeitgenossen „auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit analytischer Strukturformeln“, oder gar „auf der Suche nach einer kritischen Perspektive“. Im Vergleich dazu nimmt es sich richtig harmlos aus, daß eine Stadt wie Potsdam letztes Jahr zum Tausendjährigen „auf der Suche nach dem Geist des Ortes“ war.

Sollen wir eine These wagen? Das Such-Syndrom, diese Vermutung drängt sich auf, ist nur die Kehrseite der „Finaldiskurse“, also jener Reden vom „Ende“, die ebenso inflationär geworden sind: Ende der Geschichte, Ende der Utopien, Ende des Sozialismus, Ende der kritischen Perspektive, Ende der Moderne. Geradezu altertümlich nimmt sich da im Rückblick ein Buch aus, das 1985 noch gar nicht „auf der Suche“ war, sondern noch auf dem Weg, nämlich „Auf dem Weg in eine andere Moderne“ – so der Untertitel von Ulrich Becks „Risikogesellschaft“. Welcher Optimismus! Auf dem Weg! Die neunziger Jahre sind entschieden skeptischer geworden, zurückhaltender, eben auf der Suche. Denn einiges ist geschehen seither. Gewiß ist das Such-Syndrom die Reaktion auf all das, was in der Tat zu Ende gegangen ist. Es ist die Kompensation für die verlorene Utopie. Ein Zeichen für schwarzen Pessimismus ist es indes nicht – ein Pessimist hat keinen Anlaß, sich noch auf irgendeine Suche zu begeben.

Die Suche, Wort des Jahres 1994, ist von ganz anderer Qualität. Sie ist zunächst ein Zeichen der grassierenden Ratlosigkeit, fernab von Optimismus und Pessimismus – schlichte Ratlosigkeit darüber, was denn zu tun sei angesichts der Herausforderungen der Zeit. Ja, man kann geradezu den Satz aufstellen: Wenn die Ratlosigkeit umfassend wird, dann wird die Suche grundlegend. Zugegeben, in einigen kulturellen Bereichen erscheint der aporetische Grundzug verschmerzbar. So sollen zum Beispiel zeitgenössische Tänzer Etappen zurücklegen, wie ich gelesen habe, „auf der Suche danach“. Wonach? Keine Antwort. Eine nicht- kodifizierte Tanzsprache soll gefunden werden, aber Genaueres weiß keiner.

So richtig betroffen fühlt man sich eher von einer anderen Suche, die plötzlich in der Zeit der „Rezession“ ungeheure Bedeutung gewonnen hat: „Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft“, heißt da ein Buch, in dem von den davonschwimmenden Fellen des Sozialstaates und der Wohlstandsgesellschaft die Rede ist. Wo man jahrzehntelang nur die neuesten Prozentpunkte der jährlichen Lohnsteigerungen einzutragen hatte, da sieht man mit einem Mal das ganze Fundament in Frage gestellt. Die Suche steht hier für das böse Erwachen und für die Frage, was denn eigentlich die Idee war, die hinter den vielen liebgewordenen Selbstverständlichkeiten stand.

Aber die Suche geht weiter. Ein Suchbegriff, nichts anderes, war ja auch die vielbeschworene und vielgeschmähte „Postmoderne“ selbst. Denn es ging den postmodernen Autoren, Gott hab' sie selig, nie darum, die Moderne zu morden. Welchen Sinn sollte es haben, etwa die mühselig erworbenen Freiheitsspielräume der Moderne hinter sich zu lassen? Nein, gemeint war die Suche nach einer anderen Moderne, die die Ideologie, die Sicherheit des einen, glückselig machenden Weges, hinter sich läßt. Nur eines kann man offenbar nie hinter sich lassen: die Ironie der Geschichte. So kommt es, daß heute das Zauberwort der Ideologie seinen Glanz verloren hat. Aber täuschen wir uns nicht: Eine Zauberformel von ideologischer Beschwörungskraft ist es auch, wenn wir nun mit dem Pathos der historischen Tragweite verkünden, „auf der Suche“ zu sein.

Von unserem Autor: „Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault“. Suhrkamp Verlag 1991.