Schläge, Küsse und Samenergüsse

Die Welt als Internat – Georges-Arthur Goldschmidts essayistisches Nachspiel zu seinen Erzählungen  ■ Von Rolf Spinnler

Es gibt Autoren, die erzählen, so viel sie auch schreiben, doch jedesmal dieselbe Geschichte: in immer neuen Variationen inszenieren sie die Wiederkehr einer bestimmten Erfahrung ihres Lebens, von der sie nicht loskommen.

Georges-Arthur Goldschmidt ist so ein Autor. Fünf seiner Bücher liegen inzwischen auf deutsch vor: der Roman „Der Spiegeltag“ von 1981; die Erzählungen „Ein Garten in Deutschland“ (1986), „Die Absonderung“ (1991) und „Der unterbrochene Wald“ (1991); und jetzt auch der Essay „Der bestrafte Narziß“ (die französische Ausgabe erschien 1990).

Wenn man die Lebensgeschichte des Autors kennt, könnte man die Texte autobiographisch nennen: 1928 in Hamburg als jüngster Sohn einer deutsch-jüdischen Familie geboren; 1939 in ein Kinderheim nach Frankreich verschickt, wo er die Zeit der deutschen Besatzung überlebt; 1947 die Übersiedelung nach Paris, dort Student und schließlich Deutschlehrer an einem Gymnasium.

Aber was heißt hier „autobiographisch“? Läßt sich das eigene Leben bruchlos in Sprache und Schrift überführen? Georges-Arthur Goldschmidt, das verrät sein Essay, ist zu gut mit dem sprachphilosophischen Denken von Lacan und Derrida, Foucault und Levinas vertraut, um dieser Illusion verfallen zu können. Erleben und Erzählen, Körper und Schrift – so lautet die dekonstruktivistische These – lassen sich nicht zur Deckung bringen, weil alles Reden immer schon Verrat ist an dem, wovon es reden will. Diese unaufhebbare Differenz ist Fluch und Chance zugleich. Fluch – weil jeder Versuch, etwas über sich zu sagen, auf eine Sprache angewiesen ist, in der man die ureigensten Erfahrungen nicht mehr wiedererkennt: um Wort zu werden, muß das Fleisch untergehen. Chance – weil dieser Verrat auch die Kunst der Lüge ermöglicht, den Mummenschanz der Worte, hinter dem der Körper das Geheimnis seiner unsagbaren Wonnen bewahren kann: „Die Chance der Wahrheit liegt darin, daß es keine Wahrheit der Sprache gibt.“ In diesem Sinne hat Goldschmidt seinem „Garten in Deutschland“ als Motto einen Satz seines Übersetzers Peter Handke vorangestellt: „Alles über sich erzählen und doch nichts verraten.“

Das Thema, das sich als Cantus firmus durch Goldschmidts ×uvre zieht, ist die Verschränkung von Gewalt und Begehren, Schmerz und Lust. Das störrische und sensible Kind im Deutschland der dreißiger Jahre („Ein Garten in Deutschland“); der halbwüchsige Junge im Internat in den französischen Hochalpen („Die Absonderung“ und „Der unterbrochene Wald“); der heimatlose Student in seiner Mansarde in der Banlieue von Paris („Der Spiegeltag“) – sie scheinen besessen, ja behext von einem Vorgang, der in immer neuen Perspektiven präsentiert wird: ein Kind wird geschlagen. Lehrer schlagen zu, Erzieher, Mitschüler und Eltern; manchmal schlägt der Junge auch zurück, nur um damit neue Prügel zu provozieren. Auch in seinen Tagträumen dreht sich alles um das eine: Folterszenen werden da herbeiphantasiert, das Bild des von Pfeilen durchbohrten heiligen Sebastian. Und irgendwo – so die dunkle, kaum ausgesprochene Ahnung – gibt es Konzentrationslager, in denen auch geschlagen wird ...

Zwei Bilder sind es, die in all diesen Büchern immer wiederkehren. Das eine: der Internatszögling wird in den Wald geschickt, um die Haselnußzweige auszusuchen, mit denen er, vor den Augen seiner Mitschüler, nackt ausgepeitscht werden soll – um dann, mit tränenüberströmtem Gesicht, die Ruten, die ihn schlugen, und die Hände, die sie schwangen, zu küssen und ergeben die Demutsformel zu sprechen: „Ich bedanke mich für die Züchtigung, die mir zu meiner Besserung und Erziehung beschieden wurde.“ Das andere: allein im Schlafsaal, auf dem Dachboden, im abgeschlossenen Mansardenzimmer, zieht sich der pubertierende Jugendliche die Hose aus und legt selbst Hand an, zelebriert am eigenen Körper mit kunstvollem Ritardando die Auferstehung des Fleisches. Zwei Bilder also, zwei Rituale: das eine sadomasochistisch, das andere onanistisch. Und zwischen beiden besteht ein Zusammenhang: „Ja, die Rute erst sollte ihn mit sich selbst bekanntmachen, ihn beschwingen und beflügeln, denn nach der Züchtigung, im Dunkeln gelegen, lernte er die große Freude kennen, die Erlösung, das immer länger währende Spiel mit sich selbst; nackt wand er sich wieder in der Vorstellung unter den Birkenzweigen, den Blicken der anderen ausgesetzt, die ihn sich auch vor dem Schlafengehen noch vornahmen und auf dem Dachboden bezwangen, achtzehnjährig! Unter der eigenen Hand konnte er den Aufschrei so wenig zurückhalten wie das Heulen nach einem Dutzend Rutenhieben.“ Hier ist eine Warnung fällig: Georges-Arthur Goldschmidts Bücher sind nicht „politisch korrekt“. Sie exponieren nicht die erwartete moralische Empörung, zeigen keinen heroischen Widerstandskämpfer, schwelgen nicht in Betroffenheitskitsch. Deshalb muß man sie auch vor Interpreten in Schutz nehmen, die sie entweder wohlwollend in den Mainstream „antifaschistischer“ Literatur eingliedern wollen oder aber ihnen „Identifikation mit dem Angreifer“ vorwerfen. Solch treuherzige Parolen gehen am Knoten des Problems vorbei, am Skandal, den Goldschmidts Texte gestalten wollen.

Karl Heinz Bohrer hat einmal – zu Recht – davor gewarnt, eine Erzählung wie Kafkas „Strafkolonie“ – sicher eines der Vorbilder für Goldschmidt – auf eine abschreckende Parabel über Konzentrationslager zu reduzieren. Und ich erinnere mich noch an das Urteil einer Literaturprofessorin über Musils „Törleß“, das dieser Novelle mit souveräner Ignoranz die Daseinsberechtigung streitig machen wollte: bei einer „vernünftigen und humanen“ Gestaltung des Erziehungssystems würden „solche Geschichten“ nicht mehr vorkommen. O heilige Einfalt (oder Arglist) der Pädagogen, die in Kindern und Jugendlichen immer nur Opfer sieht, denen man beistehen muß, und gar nicht merkt, daß gerade die anhaltende Fürsorge die Opferrolle der Zöglinge verewigt!

Es geht also um eine „Rettung“ der masochistischen Lust. Wie gelingt es dem Opfer, die ihm zugefügte Strafe in die eigene Regie zu nehmen, in ein Ritual zu verwandeln, an dem es sich narzißtisch delektieren und so den Schmerz in Lust verkehren kann?

Tatsächlich haben Goldschmidts Geschichten viel mit Musils „Törleß“ gemeinsam: die Verknüpfung von jugendlicher Einsamkeit, pubertärer Erotik und philosophischer Sprachskepsis. Doch Musil, der philosophierende Ingenieur, will zuviel auf einmal: eine Erzählung schreiben und gleichzeitig den Kommentar dazu. Das geht zu Lasten der Geschichte, die vor lauter Reflexionen nicht vorankommt: es müssen sich erst Parallelen im Unendlichen schneiden, bevor Törleß und Basini endlich miteinander ins Bett dürfen. Goldschmidt ist da viel klüger: er trennt Erzählung und Essay. In Frankreich wurde er vor allem als Essayist bekannt: mit Arbeiten über Rousseau, Freud oder Peter Handke. Es waren dann die Vorbilder Handke, den Goldschmidt ins Französische übersetzt hat, und Stifter (etwa dessen „Bergkristall“), die ihm schließlich den richtigen Ton für seine Erzählungen finden halfen: den langen Atem einer ruhig dahinfließenden Prosa, der die Schrecken und Wonnen der Kindheit nicht psychologisierend verdoppelt, sondern durch ein unpathetisches „So war es“ zu bannen sucht. Am überzeugendsten ist das in „Die Absonderung“ gelungen. Für die philosophische Reflexion dieser Geschichten hat Goldschmidt dann die Form des Essays gewählt: sie erlaubt ein freies Improvisieren, eine Art zweiten Durchgang durch ein Material, das als bekannt vorausgesetzt wird.

Masochismus und Onanie also. Kenner der Psychoanalyse würden hier wohl zuerst zu Freuds Aufsatz „Ein Kind wird geschlagen“ aus dem Jahr 1919 greifen. Goldschmidt erwähnt ihn nicht. Vielleicht, weil Freud alles Geschehen auf das „ödipale Theater“ (Deleuze/Guattari) einengt, auf die Konstellation Papa, Mama, Kind: er deutet das Zusammenfallen von „Schlagephantasie“ und Onanie als „feminine Einstellung“ zum Vater. Immerhin spricht auch Freud von „narzißtischem Masochismus“. Bei Goldschmidt liest sich das so: „Denn das masochistische, das sich träumende Kind, wer ist es anderes als der bestrafte Narziß? Der sich wiederfindende, bestätigte Narziß? Ihr bestraft mich dafür, also bin ich dies.“ Der Essayist scheint seinen ganzen Ehrgeiz daranzusetzen, diese Einsicht von der Geburt des Selbstbewußtseins aus dem Ritual des Verprügeltwerdens in immer neuen Formulierungen auszukosten, eine raffinierter als die andere. Er liefert ein Gegenmodell zu Descartes: ich spüre meinen Körper, kann mich selbst befriedigen – also bin ich. Der Masochist betreibt eine Umwertung der Werte, wird vom Opfer zum Täter: „Das Kind ,leistet sich‘ seine Fügsamkeit, sie ist seine höchste Freiheit.“ Denn: „Das geprügelte Kind bewahrt davon nicht die gleiche Erinnerung wie diejenigen, die es leiden sahen und weinen hörten. Ihm bleibt davon die immerwährende Gewißheit seiner Heiligkeit.“ Kurz: „Was ihr mir angetan habt, ist mir Lust.“

Die Strafe erreicht somit das Gegenteil von dem, was sie bezweckt: Selbstbehauptung, nicht Unterwerfung. Ein weiteres gutes Argument gegen jeden „pädagogischen Strafvollzug“ – auch in der aktuellen Auseinandersetzung mit gewalttätigen Jugendlichen. In seiner an literarischen und philosophischen Kronzeugen reichen Beweisführung – Rousseau und Swinburne, Karl Philipp Moritz' „Anton Reiser“ und Deleuzes Essay über Sacher-Masoch werden aufgeboten – wäre ihm auch Nietzsche, der Genealoge der Moral, beigesprungen: „Ins große gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab; sie konzentriert; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie stärkt die Widerstandskraft.“ Internate wie Gefängnisse produzieren gerade jene „Laster“, die sie bekämpfen.

Es würde den Autor vielleicht überraschen, daß seine Bücher in der Schwulenszene als Geheimtip gehandelt werden. Homosexuelle Beziehungen werden darin nur vage angedeutet; es fehlt freilich nicht an einschlägigen Ikonen (der heilige Sebastian!). Goldschmidt scheint es eher um Autoerotik zu gehen, die Geburt von Philosophie und Poesie aus dem Geist der Onanie: „Das letzte Aufströmen, der Augenblick des ,Kommens‘, aber Noch-nicht-Gekommenen, dort bildet sich auch das Wort an seinem Ursprung.“ Sogar das Wort der Theologie: „,Ejakulation‘ sagt die Sprache zugleich für ,kurze und inbrünstige Gebete‘ (...) und für den Samenerguß.“ Es gibt noch weitere „schöne Stellen“ dieser Art über das „Aufspritzen“ des philosophischen Worts; aber lassen wir es bei diesen Kostproben bewenden. Lieber noch einmal den Blick auf einen dieser Jünglinge lenken, der seine Niederlagen in Siege verkehrt. Die Welt ist voll von ihnen. Hanno Buddenbrook, der Schulversager, kommt nach Hause, zieht die Vorhänge zu und setzt sich ans Klavier. „Ich weiß, wovon du spielst“, sagt Kai, der Freund, und errötet. Ja, wozu hat er denn zwei Hände ... – wo er doch weiß, daß das Klavierspiel „ihn“ wieder aufrichten wird. „Und es kam, es war nicht mehr hintanzuhalten“: die „Lösung, die Auflösung, die Erfüllung, die vollkommene Befriedigung“. Blaß und erschöpft sitzt er dann da, der Junge, „die Hände im Schoß“, ohne Kraft in den Knien, und seine Augen brennen. All diesen an sich selbst verzweifelnden Jugendlichen, die erst in der Verzweiflung die Kraft entdecken, die in ihnen steckt, hat Georges-Arthur Goldschmidt mit seinen Büchern ein Denkmal gesetzt.

Georges-Arthur Goldschmidt:

– „Der Spiegeltag“ (Roman), aus dem Französischen von Peter Handke, Suhrkamp-Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1989, 166 Seiten, 10 Mark

– „Ein Garten in Deutschland“ (Erzählung), aus dem Französischen von Eugen Helmlé, Ammann-Verlag, Zürich 1988, 192 Seiten, 32 Mark (auch als Suhrkamp-Taschenbuch 1991, 12 Mark)

– „Die Absonderung“ (Erzählung), Ammann-Verlag, Zürich 1991, 184 Seiten, 34 Mark (auch als Fischer-Taschenbuch 1993, 14,90 Mark)

– „Der unterbrochene Wald“ (Erzählung), aus dem Französischen von Peter Handke, Ammann-Verlag, Zürich 1992, 174 Seiten, 34 Mark

– „Der bestrafte Narziß“ (Essay), aus dem Französischen von Mariette Müller, Ammann-Verlag, Zürich 1994, 160 Seiten, 34 Mark