„Dudajew ist das Widerstandsbanner“

■ Interview mit der Demokratin Galina Starowojtowa über den Tschetschenien-Krieg: „Der psychologische Aspekt wird auf russischer Seite völlig außer acht gelassen“

Galina Starowojtowa (47) gilt als First Lady der russischen Politik. Die aus St. Petersburg stammende Ethnologin gewann ihr erstes Abgeordnetenmandat, noch für den Obersten Sowjet der UdSSR, in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Als Spezialistin für die Kaukasus- Völker hatte sie sich insbesondere in der Karabach-Frage engagiert. Sie gehörte dann zu den Mitbegründern der „Überregionalen Deputiertengruppe“, der ersten parlamentarischen Opposition in der Geschichte der UdSSR. Als Jelzin 1991 Präsident Rußlands wurde, stand sie ihm als Beraterin für Nationalitätenfragen zur Seite. Im November 1992 wurde sie ohne Begründung von diesem Posten entlassen. Heute ist sie Vorstandsmitglied der Partei „Demokratisches Rußland“.

taz: General Jermolow, der russische Führer im Kaukasus-Krieg des 19. Jahrhunderts, hat einmal gesagt: „Gebt mir einen Tschetschenen, und ich werde alle Bergvölker bezwingen.“ Wo ist heute Moskaus Tschetschene?

Galina Starowojtowa: Moskau hat „seinen“ Tschetschenen schon gehabt – in der Form von Ruslan Chasbulatow [dem einstigen Parlamentspräsidenten, der 1993 einen Aufstand gegen Jelzin leitete; d.R.]. Aber weil er sich in Opposition zu Jelzin befand, galt er hier als unakzeptabel. Einen anderen konnte Moskau bisher nicht finden. Salamlek Hadschijew, den Moskau jetzt den Tschetschenen als Kopf einer Gegenregierung anbietet, ist ein Mensch mit breitem Horizont; zu Sowjetzeiten war er Minister für Erdölindustrie. Aber sie werden ihn nicht akzeptieren, denn er stammt aus einem Volk aus Dagestan. Und: Er soll ihnen aufgezwungen werden. Der Zar bot am Ende des Kaukasus-Krieges dem Tschetschenenführer Schamil einen eigenen Palast und eine tschetschenische Leibgarde in Moskau an. Heute wird der psychologische Aspekt auf russischer Seite völlig außer acht gelassen.

Wie sehen Sie das weitere Schicksal des tschetschenischen Präsidenten Dudajew?

Dudajew ist heute das Widerstandsbanner des tschetschenischen Volkes. Ich bin fest davon überzeugt, daß man Gruppen nach Grosny einschleust, um ihn umzubringen. Ein Gerichtsprozeß gegen Dudajew würde nur neue Unruhe unter den Kaukasusvölkern hervorrufen. Moskau braucht ihn nicht lebendig, sondern tot. Das weiß Dudajew auch.

Und die tschetschenische Blutrache?

Bei den letzten Zusammenstößen zwischen Dudajews Garden und der tschetschenischen Opposition [vor dem russischen Einmarsch; d.R.] transformierte sich der innertschetschenische Streit von einer Familienvendetta zu einer Angelegenheit ganzer sozialer Schichten. Falls Dudajew ermordet würde, könnte man jetzt nicht ausschließen, daß ihm ergebene Freischärler ihn in Rußland mit Terroranschlägen rächen.

Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen dem Tschetschenien-Krieg und dem Jahrhundertdeal, bei dem dieses Jahr Aserbaidschan seine Erdölressourcen im Kaspischen Meer mit einen US- dominierten Konsortium zu verwerten beschloß?

Daß Rußland brennend an einem Pipeline-Verlauf aus Aserbaidschan nach Europa über den Nordkaukasus und damit durch Tschetschenien interessiert ist, war eine der Ursachen für diesen Krieg. Nicht daran interessiert sind aber die westlichen Partner dieses Vertrags. Sie befürchten, daß die russische „Lukoil“, der man im jetzigen Vertrag zehn Prozent der Aktien des Konsortiums zugestanden hat, künftig einen höheren Anteil für sich erpressen könnte. Letztendlich wird man sich wohl auf einen Pipeline-Verlauf südlich des Kaukasus einigen müssen, von Aserbaidschan durch Nagorny Karabach, Armenien in die Türkei. Dies würde im dortigen Krieg ein Friedensabkommen voraussetzen. Trotz dieser Perspektiven würde ich nicht sagen, daß sich bereits eine Kooperation dieser Transkaukasusländer abzeichnet. Zu allem Überfluß bereitet das Parlament von Georgien jetzt ein erneutes gewaltsames Vorgehen gegen das abtrünnige Abchasien vor, nach dem russischen Modell in Tschetschenien.

Wie hat sich das Gleichgewicht zwischen Rußland und den Ländern des Nordkaukasus verändert?

Das Massaker in Tschetschenien hat alle vorsichtig gestimmt. Ich erwarte neue zentrifugale Tendenzen. Die Volksfronten des Nordkaukasus propagieren jetzt eine „Sonderzone“ ihrer Republiken, die relativ autonom gegenüber Moskau sein soll. Eine Ausnahme bildet hier Nord-Ossetien, dessen Bevölkerung christlich ist und dessen Führer vom Kreml besonders begünstigt werden. Dorthin – und in geringerem Maße auch nach Dagestan – geht jetzt ein beträchtlicher Teil der für Tschetschenien bestimmten Hilfsgüter. Damit will Moskau die dortigen Regime stützen und sich ihrer Loyalität versichern.

Suchen die demokratischen Kräfte in Rußland nun nach alternativen Organisationsformen?

Nein. Wir müssen nur unsere bisher noch embryonalen Parteiorganisationen stärken. Erfreulicherweise haben sich uns in letzter Zeit viele Banken zugewandt. Sie begreifen, daß sie alles verlieren könnten, wenn Leute wie Schirinowski an die Macht kommen. Daß es im demokratischen Lager mehrere Parteien gibt, ist doch völlig normal, das ist in allen westlichen Ländern so. Wir sind bereits dabei, Abkommen untereinander zwecks gemeinsamen Vorgehens zu schließen. Ein gemeinsamer Präsidentschaftskandidat zeichnet sich allerdings nicht ab. Interview: Barbara Kerneck