B-Waffen-Forschung bleibt im dunkeln

Noch immer fehlt ein vollständiger Überblick über Rußlands B-Waffen-Schmiede  ■ Von Friedrich Hansen

Auf einer Sonderkonferenz in Genf diskutierten im September des vergangenen Jahres Vertreter von 81 Staaten über internationale Rüstungskontrolle auf dem Sektor der biologischen Waffen. Nach der maßgeblichen Definition der Vereinten Nationen sind B-Waffen lebendige Organismen jedweder Art oder von ihnen abgesonderte Gifte, die bei Menschen, Tieren oder Pflanzen Krankheit oder Tod verursachen.

B-Waffen sind mittlerweile durch den technischen Fortschritt so billig und einfach herstellbar, daß sie auch für wenig entwickelte Staaten oder Terrorgruppen verfügbar sind. Die Hauptsorge gilt derzeit, wie bei Plutonium, der Weiterverbreitung (Proliferation) von B-Waffen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Noch mitten im Kalten Krieg hatte sich 1972 die internationale Staatengemeinschaft auf ein B-Waffen-Übereinkommen (BWÜ) verständigt. Es wurde inzwischen von 111 Staaten ratifiziert und von weiteren 25 Regierungen unterzeichnet. Das BWÜ verbietet zwar die Entwicklung, Produktion und Lagerung von B-Waffen, nicht aber die Erforschung von Abwehrmaßnahmen. Zudem enthält es keine Kontrollvereinbarungen, die seine Einhaltung gewährleisten. Schwierigkeiten bereitet vor allem der Umstand, daß sich die meisten biotechnischen Anlagen für zivile Produkte ebenso eignen wie für die Herstellung von B-Waffen.

Um diesen Problemen zu begegnen, hat eine vor vier Jahren eingesetzte Expertengruppe für Rüstungskontrollfragen (Verex- Gruppe) ein Instrumentarium sogenannter vertrauensbildender Maßnahmen entwickelt. Dazu gehören jährliche Berichte der Teilnehmerstaaten über ihre einschlägigen Forschungsaktivitäten in Hochsicherheitslabors, über Seuchenausbrüche und Impfprogramme. Dazu gehört auch Satelliten- und Bodenüberwachung entsprechender Anlagen und Vorort- Inspektionen durch internationale Expertenteams.

Auf der Sonderkonferenz in Genf scheiterte ein entsprechender 21-Punkte-Katalog der Verex- Gruppe am Widerstand zahlreicher Entwicklungsländer unter der Führung von Indien, dem Iran und der Volksrepublik China. Diese Länder machen ihre Zustimmung von der sofortigen Abschaffung sämtlicher Exportbeschränkungen für sensitive Biotechnologie in die Dritte Welt abhängig. Andererseits ist auch bei einigen Industriestaaten die Akzeptanz von Inspektionen der eigenen Forschungslabors gering. Die USA – ursprünglich Motor der BWÜ – betreiben inzwischen selbst Obstruktionspolitik. Angesichts der rasanten biotechnologischen Entwicklung befürchtet man eine Gefährdung von wichtigen Industriepatenten durch Vorort-Inspektionen.

Unsicherheit besteht gegenwärtig über das B-Waffen-Arsenal Rußlands. Inzwischen wurde nämlich bekannt, daß die Sowjetunion bald nach Abschluß des BWÜ von 1972 ein gigantisches B-Waffen- Programm aufgelegt hatte. Unter dem Namen „Biopräparat“ wurde ein mit zivilem Anstrich versehenes, weitgespanntes Netz biotechnologischer Labors errichtet, das noch in der Ära Gorbatschow geschätzten 25.000 Menschen Beschäftigung geboten haben soll.

Bis heute hat Moskau im Rahmen der vertrauensbildenden Maßnahmen gemäß BWÜ gegenüber den Vereinten Nationen lediglich vier Biopräparat-Standorte gemeldet. Dies sind die Institute in Kirow (Mikrobiologie), Jekaterinburg (ehemals Swerdlowsk, B-Waffen-Schutz), Sergijew Posad (ehemals Zagorsk, Virologie) und St. Petersburg sowie ein Testgelände auf der Insel Vozrozhdenyie im Aralsee. Amerikanische Geheimdienstquellen gehen jedoch davon aus, daß zu dem Komplex Biopräparat insgesamt zwanzig Standorte gehörten, darunter Labors in Obelensk, Moskau und Nowosibirsk.

Aufgeschreckt wurden die westlichen Geheimdienste durch die Enthüllungen des Überläufers und ehemaligen Biopräparat-Chefs aus Leningrad, Wladimir Pasechnik, im Oktober 1989. Er erzählte den westlichen Geheimdiensten, 1983 habe man in den südlich von Moskau gelegenen Labors von Obelensk einen genmanipulierten Stamm der für den Menschen tödlichen Hasenpest waffenfähig präpariert. Zum Design des Stammes gehörte, daß gegen ihn die meisten westlichen Antibiotika unwirksam sein sollten. Zwei Jahre später will Pasechnik mit den Arbeiten an der Lungenpest, einer der tödlichsten Seuchen überhaupt, begonnen haben. 1987 sei man in der Lage gewesen, 200 Kilo Pesterreger pro Woche zu produzieren, eine Menge, die ausreichen würde, etwa 500.000 Menschen zu töten. Doch mit der Massenproduktion wurde nie begonnen, da die Keime nicht lange haltbar sind. Pasechnik behauptet aber, man sei auf einen Tag X vorbereitet gewesen, um loszulegen. Ob diese Behauptungen zutreffen, oder ob Pasechnik sich im Westen mit seiner Geschichte nur wichtig machen wollte, weiß bis jetzt niemand genau.

Während Michail Gorbatschow die Existenz von Biopräparat stets geleugnet hatte, erließ Boris Jelzin am 11. April 1992 ein Dekret zur Beendigung desselben. Aber auch Jelzin hatte Schwierigkeiten mit der Durchsetzung des Dekrets bei seinen Militärs. Internationales Mißtrauen erregte, daß er ausgerechnet den Vater des sowjetischen C-Waffen-Programms, Anatoli Kunzewitsch, damit beauftragte, die Waffenlabors für zivile Zwecke zu konvertieren.

In der Folge initiierten die USA und Großbritannien im September 1992 in Moskau gemeinsam mit Rußland einen exklusiven trilateralen Kontrollprozeß. Von russischer Seite wurden dort mehrere Zugeständnisse gemacht: sofortige Einstellung der offensiven B-Waffen-Forschung, Reduzierung des militärischen Personals in den einschlägigen Labors auf die Hälfte, Kürzung der Forschungsmittel um 30 Prozent und die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung des Leningrader B-Waffen- Instituts. Die entscheidende Kompromißformel der dreiseitigen Vereinbarung war die Ersetzung von „Inspektionen“ durch „Besuche“. Damit wurden die Befugnisse der westlichen Beobachter weitgehend entschärft.

Die bis Ende 1993 durchgeführten Kontrollgänge führten, laut russischer Mitteilungen, zu keinerlei Beanstandungen. Im April vergangenen Jahres feuerte Jelzin dann General Kunzewitsch wegen „grober Pflichtverletzung“. Jelzins Umweltberater Aleksej Jablokow bemerkte dazu, zwei Jahre nach Jelzins Dekret vom April 1992 und mit Blick auf die russischen Militärs: „Ich hoffe, sie haben die Produktion eingestellt, aber ich bin nicht sicher, ob wir das überprüfen können.“ Die derzeitige Politik der USA, die Kontrolle der sowjetischen B-Waffen-Abrüstung in die trilaterale Gruppe zu verlagern, droht dem internationalen Prozeß zur Fortentwicklung des BWÜ vollends die Schubkraft zu nehmen.