Strahlender Glanz gefallener Sternchen

■ Premiere im Schauspielhaus: Alexander Galins „Sterne am Morgenhimmel“ spiegeln sich im Eis auf der Bühne

Noch nie hat sich ein Theatervorhang so unelegant geöffnet. Zur Premiere von Alexander Galins „Sterne am Morgenhimmel“ wird der rote Samtvorhang von Hand bewegt. Mühselig und ruckelnd zerrt ihn Gabriele Möller-Lukasz im Hausmeistermantel quer über die Bühne, kurz vorm rechten Bühnenrand bricht ihr die ganze schwere Last dann noch herunter. Russische Verhältnisse, nicht mal das Grundsätzlichste funktioniert. Das Bühnenbild, das sich dem Blick bietet: Ein kleiner Birkenwald, stehen geblieben von einer Sommergäste-Inszenierung, dient jetzt als Brennholz, fünf verstaubte Kronleuchter hängen auf Halbmast, und eine übriggebliebene Sesselreihe ragt in die Luft wie die Titanic nach ihrem Rendezvous mit dem Eisberg. Aus dem Hintergrund tritt eine Partygesellschaft mit Sektgläsern. Als sich die Gäste ihren Weg durch rutschende Eisbrocken bahnen, brandet Szenenapplaus auf - kaum daß sich der Vorhang gehoben hat.

Gut, das Bremer Schlitterwetter half als Eisbrecher. Aber auch ohne Klima-Timing, heizt dieser Kaltstart ein. Scheinbar mühelos gelingt es Regisseurin Konstanze Lauterbach aus Leipzig bei ihrer ersten Westinszenierung das Publikum mit einem Stück über die Tristesse des nachsozialistischen Alltags zu fesseln.

Für die Protagonistinnen scheint der aussichtslos genug zu sein. Anläßlich der Olympiade hat man die Dirnen Maria, Anna und Laura von den Straßen der Moskauer Innenstadt verbannt und in ein Quartier im Randbezirk geschickt. Hier finden wir die gefallenen Heldinnen in einer Mischung aus Illusion und Hysterie. Große Träume vom kleinen Glück mischen sich mit abgetragen Theaterkostümen und Unmengen von Fusel. Jeden Moment könnte Tom Waits vorbeikommen und mitleiden.

Aus den Sommergästen im Birkenwäldchen ist eine Endzeitgesellschaft auf Trebe geworden. So sind die Gäste, die die minderjährige Maria, die alkoholabhängige Anna und die mit dem Charme einer Maggie Thacher ausgestattete, frustrierte Klara besuchen auch kaum noch von dieser Welt. Offensichtlich sind sie aus der benachbarten Psychiatrie entwichen. Unversehens marschieren sie durchs Birkenwäldchen, ziehen ein, wie die drei Könige aus dem Morgenland. Mit dem dicken Sänger, im weinroten Abendkleid einer Operndiva, kommt es zu einer stilsicheren Begegnung der dritten Art. Ohne Vorwarnung schmettert der ausgebildete Sänger Peter Prior - in der letzten Saison noch in Hamburg, beim „Phantom der Oper“ tätig - mitten in Konstanze Lauterbachs russischem Nachtasyl eine Tosca-Arie. Und gleich anschießend, ohne daß Zeit wäre, sich von dem atemberaubenden Stilbruch zu erholen, holt er noch einmal tief Luft Gemeinsam mit der Dirne Maria, der stimmsicheren Gabriela Maria Schmeide, erklingt ein schmalziges La Traviata Duett „Oh laß uns fliehn aus diesen Mauern“ . So sprachlos ist das Premierenpublikum, daß man sich nur mit Szenenapplaus zu helfen weiß. Der Regieeinfall dieser Szene bedient in seiner Kitschigkeit sämtliche Sehnsüchte nach Camp und könnte manch und gewolltem 70er Revival das Wasser reichen.

Das ist ein Stil- und ein Zeitsprung. Ursprünglich hatte der Theaterautor Alexander Galin in konventionell realistischer Manier seine drei Hauptdarstellerinnen in eine an Gorkis Nachtasyl gemahnende Baracke verbannt.

Der Grundton ist vorrevolutionär, wie bei Tschechow: Sehnsucht und Resignation. Zehn Jahre nach der Perestroika, beamt Konstanze Lauterbach die drei Schwestern im Leid dann in ein abgetakeltes Theater.

Das macht durchaus Sinn. Schließlich wissen wir auch in der westdeutschen Provinz mittlerweile, wie erbärmlich es um Rußland bestellt ist. Das Resultat: Inmitten der Ödnis des nachsozialistischen Desasters finden sich Menschen, die auf der Bühne ihren Träumen und Illusionen nachhängen dürfen. Und die Regisseurin stellt ihnen dafür alle theatralischen Tricks zur Verfügung.

Da tauchen Zauberer mit Magiekunststückchen auf, das russische Stück ist plötzlich mit einem „Dinner for four“-Satzfetzen ganz auf der Höhe der Zeit, und jemand findet im schlimmsten Delirium-Tremens Zuflucht unter einem schwarzen Regenschirm. Schöne Bilder, aus einer surrealen Kunstwelt, die all das einlöst, was man sich vom Theater wünschen kann: In einer gesellschaftlichen Endzeitsituation, einen Neuanfang auf der Bühne schaffen, der Zündfunken schlägt, aus dem Fallen der „Sterne am Morgenhimmel“.

Susanne Raubold

Weitere Vorstellungen von „Sterne am Morgenhimmel“ imSchauspielhaus, 13. u. 14. 1. 20 Uhr