"Etwas in uns ist tot"

■ Interview mit der israelischen Shoah-Expertin Safira Rapoport über pädagogische Konzepte und Strategien gegen den Antisemitismus, vor allem bei Jugendlichen

taz: 1995 ist das Jahr, in dem sich zum 50. Mal die Befreiung vom Nationalsozialismus jährt. Welche Rolle spielt das Erinnern im israelischen Leben heute?

Safira Rapoport: Die Shoah ist allgegenwärtig. Es besteht in Israel ein nationaler Konsens, die Flamme brennen zu lassen, das heißt, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und der Opfer zu gedenken. Die Frage ist nur, auf welche Weise wir das tun. Ich glaube, wir sind hier an einer Art Scheideweg angekommen, an einem Wendepunkt. In den 50er Jahren sind die Überlebenden der Shoah in Israel geradezu ignoriert worden. Über den Opfern lag etwas von Schuld und Tadel, wie die Lämmer zur Schlachtbank gegangen zu sein. Und ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich sage, daß es nicht einfach war, als Tochter von Holocaust-Überlebenden in Israel aufzuwachsen. Das öffentliche Bewußtsein bestimmten nicht die Opfer, sondern diejenigen, deren Familienmitglieder in Untergrundgruppen für die Unabhängigkeit Israels gekämpft hatten.

Der Eichmann-Prozeß im Jahre 1961 bedeutete in dieser Hinsicht einen Einschnitt.

Ja genau, das ist der erste Einschnitt gewesen. Plötzlich waren die Überlebenden in jedem israelischen Wohnzimmer präsent, man hörte ihre Stimmen und die Schilderungen der grauenhaften Vorgänge in den Lagern und Ghettos. Menschen, die der Vernichtung entkommen waren, brachen nun ihr jahrelanges Schweigen, und die israelische Gesellschaft öffnete sich ihnen stärker, als dies vorher der Fall war.

Weitere Einschnitte hat es unter dem Eindruck existentieller Bedrohung gegeben, bei dramatischen Ereignissen wie dem Sechstagekrieg, dem Jom-Kippur-Krieg oder zuletzt dem Golfkrieg. Es ist das subjektive Gefühl, einer Situation ausgeliefert zu sein, in einem abgedichteten Raum zu sitzen und nichts tun zu können. Dann bricht das Trauma des Holocaust auf, das Bewußtsein der Israelis ist wie um 50 Jahre zurückversetzt, und wir begreifen, daß wir alle Überlebende des Holocaust sind. Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, ob ein Jude aus Nordafrika stammt, hier geboren ist oder die Verfolgungen selbst erlebt hat: Wir alle fühlen uns in solchen Momenten wieder wie im Ghetto.

Und an welchem Wendepunkt sehen Sie die israelische Gesellschaft heute?

Bislang war die Erinnerung lebendig, man traf die Generation der Shoah im täglichen Leben auf der Straße und ist auf diese Weise mit der Vergangenheit sehr direkt konfrontiert gewesen. Aber bald wird das nicht mehr so sein. Die Frage heute ist also, wie es weitergeht. Man hat inzwischen angefangen, Lehrpläne zu schreiben. Noch vor zehn Jahren hat es die überhaupt nicht gegeben. Ich sehe täglich die Besucher, die hierher nach Yad Vashem kommen: Lehrer, Schüler, Studenten, Soldaten, Menschen aller Berufsgruppen und aus allen Teilen der Gesellschaft. Wovon sich israelische Jugendliche heute bedroht fühlen, ist die Hamas oder die Hisbollah und die Frage, ob sie sich in den Bus von Tel Aviv nach Jerusalem setzen können, ohne in die Luft gesprengt zu werden. Diese Bedrohung ist konkret, die Prioritäten haben sich verschoben. Was den Holocaust angeht, haben wir es nach meiner Beobachtung mit einer Tendenz zu tun, die ich „Akademisierung“ nenne. Ich stelle fest, daß die Jugendlichen zwar sehr genau bescheid wissen über die Geschichte des Dritten Reichs, daß ihnen aber manchmal der emotionale Zugang fehlt, daß sie sich nicht mehr persönlich betroffen fühlen. Dies ist der Wendepunkt, an dem wir uns jetzt befinden.

Letzteres trifft mit umgekehrten Vorzeichen auch auf viele deutsche Jugendliche zu.

Ja, aber ich würde in der Frage des Umgangs mit dem Holocaust nur ungern eine exakte Parallele ziehen wollen zwischen der jungen Generation in Deutschland und der in Israel. Andererseits ist dieses Phänomen natürlich eine Folge der Zeit und die vielleicht wichtigste pädagogische Herausforderung in unseren beiden Ländern. Vor 20 Jahren hat noch das Foto von dem kleinen Jungen mit erhobenen Händen im Warschauer Ghetto ausgereicht, Betroffenheit auszulösen. Der Grad der Sensibilität hat sich verändert, und deshalb bedarf es didaktischer Anstrengungen, die Jugend an das Thema heranzuführen.

Um ein Beispiel zu nennen: „Schindlers Liste“ war deshalb ein so wichtiger Film, weil er unzählige Menschen erreicht hat, die sich niemals in die Bibliothek von Yad Vashem setzen würden, um Bücher über die Shoah zu lesen. Es ist das große Verdienst von „Schindlers Liste“, das Thema ins Bewußtsein vieler Menschen gebracht zu haben. Die Gefahr besteht allerdings darin, daß die Beschäftigung mit dem Holocaust in Gestalt eines solchen Films anfängt und zugleich schon wieder aufhört. Das wäre die „Hollywoodisierung“ der Shoah, die mir große Angst bereitet. Beides ist ein Problem: die „Akademisierung“ und die „Hollywoodisierung“.

Wo müßten Ihrer Meinung nach die pädagogischen Anstrengungen ansetzen, um diesen Tendenzen entgegenzuarbeiten?

Also, zunächst würde ich es natürlich begrüßen, wenn noch mehr Zeit im Geschichtsunterricht für das Thema zur Verfügung stünde. Aber es geht nicht nur um den schulischen Sektor. Wichtig erscheint mir vor allem, daß wir stärker zusammenarbeiten und uns austauschen: Pädagogen, Vertreter von Kirchen und Jugendeinrichtungen, Historiker, Journalisten, überhaupt alle diejenigen, die sich um das Thema kümmern – in Israel, in Deutschland, in Polen oder anderswo. Wir sollten den Dialog suchen. Etwas davon versuchen wir hier in der pädagogischen Abteilung durch unser Angebot an verschiedensprachigen Büchern, Zeitschriften, Filmen, Aussagen von Zeitzeugen und Unterrichtsmaterialien sowie durch unsere Seminare mit Besuchergruppen aus unterschiedlichen Ländern. Wir bemühen uns, Anregungen zu geben, wie die Fakten vermittelt werden können und wie damit begonnen werden kann. Zu unserer Arbeit gehört es aber auch, zuzuhören, was die Besucher uns zu sagen haben.

Wir haben Ähnlichkeiten festgestellt in der Haltung eines Teils der jungen Generation in Deutschland und in Isarel. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß in Deutschland das Verhalten gegenüber der Shoah jahrzehntelang von Verdrängung geprägt war. Worin bestehen heute die Unterschiede im Umgang mit der Vergangenheit, oder – anders gesagt – worin sollten sie bestehen?

Das ist eine sehr komplexe Frage, und ich scheue mich vor allzu groben Generalisierungen. Ich bin auch keine besondere Expertin für die Situation in Deutschland, und ich kann und will den Deutschen nicht erklären, wie sie mit ihrer Vergangenheit umzugehen haben. Ich wäre schon dankbar genug, wenn überall der nationalsozialistische Genozid an den Juden als in der Weltgeschichte einzigartiges Verbrechen verstanden werden würde. Aber sicher ist Deutschland in dieser Hinsicht noch mehr gefragt als andere Länder.

Ich bin übrigens sehr beeindruckt vom Engagement vieler junger Deutscher, die zum Beispiel als Volontäre nach Yad Vashem kommen. Sie machen eine ungeheuer wichtige Arbeit und tragen dazu bei, die Sensibilität zu schärfen. Auf der anderen Seite habe ich auch Verständnis dafür, wenn die Teenager in Israel oder selbst in Deutschland irgendwann müde werden, die alten Geschichten zu hören. Ich sage überhaupt nicht, daß das so sein sollte – im Gegenteil –, aber ich kann es in gewisser Weise verstehen. Nur stellt sich dann die Frage, wer noch ein oder zwei Generationen später die Flamme am brennen halten wird oder ob man irgendwann die Shoah als eine Katastrophe der jüdischen Geschichte behandeln sollte wie die Zerstörung des zweiten Tempels. Ich habe keine fertigen Rezepte. Diese ganzen Fragen sind Teil einer großen Debatte, die geführt werden muß, und zwar am besten von Israelis und Deutschen gemeinsam.

Zu dieser Debatte gehören dann auch die rassistischen Übergriffe in Deutschland. Welche Strategien sehen Sie gegen Neonazismus und Antisemitismus?

Zwei Dinge sind nach meiner Auffassung entscheidend: Erstens, die Judenvernichtung der Nazis nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil der Gesamtgeschichte Deutschlands und des Dritten Reichs. Und zweitens, nicht nur antisemitische Stereotype zu bekämpfen, sondern überhaupt Vorurteile, in welcher Form und wo immer wir ihnen begegnen.

Was empfinden Sie, wenn Sie die deutschen Neonazis sehen?

Mitleid. In erster Linie Mitleid und auch Trauer. Jedenfalls keinen Haß. Ich empfinde Trauer, daß wir uns damit auseinandersetzen müssen. Sie und ich, wir sind uns da sehr nahe. Uns bleibt keine Wahl: Wir haben die Verantwortung, uns dem zu stellen. Psychologisch bedeutet dies aber auch, daß dieser Mann mit dem Schnurrbart am Ende in gewisser Weise gewonnen hat. Das ist die Tragödie. Wer heute durch die Straßen Tel Avivs geht, könnte meinen, die Juden leben ein normales Leben. Aber so ist es nicht. Etwas in uns ist tot. Interview: Ralf Melzer

Safira Rapoport ist die Direktorin des Resource-Center, der pädagogischen Abteilung der Mahn- und Gedenkstätte Yad Vashem