Das Ende einer Überbewertung

■ Jäh riß der Sturz des Peso die Mexikaner aus der Fortschrittseuphorie. Der Währungskurs war künstlich stabilisiert worden, um den Eintritt in die Nafta-Freihandelszone zu ermöglichen. Heute stellt sich auch...

Jäh riß der Sturz des Peso die Mexikaner aus der Fortschrittseuphorie. Der Währungskurs war künstlich stabilisiert worden, um den Eintritt in die Nafta-Freihandelszone zu ermöglichen. Heute stellt sich auch die Frage: Was hat Nafta Mexiko gebracht?

Das Ende einer Überbewertung

Wie der um die Jungfernschaft seiner Braut betrogene Bräutigam dürfte sich die US-Regierung jetzt vorkommen. Schließlich war die Fiktion eines stabilen Peso eines der Hauptargumente, um Skeptiker im eigenen Lande von der Nafta-Hochzeit mit dem kleinen Bruder zu überzeugen. Kurz vor Weihnachten, knapp ein Jahr nach Inkrafttreten des umstrittenen Freihandelsvertrages zwischen den USA, Kanada und Mexiko kam es zum dramatischen Währungseinbruch (siehe Kasten), mit den üblichen Folgen: Kapitalflucht, rapide Zins- und Preissteigerungen.

Über Nacht wurde das OECD- Mitglied Mexiko wieder zum Sorgenkind von IWF und USA. Es soll allerdings niemand behaupten, er habe es nicht gewußt. Seit Jahren, besonders seit Beginn der Nafta- Verhandlungen 1992, warnen renommierte US-Ökonomen wie Rüdiger Dornbusch vor der „absurden Überbewertungsstrategie“ der alten Regierung unter Carlos Salinas. Der Wechselkurs sei eine „politische, keine ökonomische“ Parität gewesen, um Zuverlässigkeit und Stabilität zu suggerieren.

Die MexikanerInnen werden vor den Folgen der Abwertung nur noch durch einen zweimonatigen Preisstopp geschützt. Was danach kommt, ist ungewiß. Auf die Stärkung der angeschlagenen Binnenindustrie zu hoffen, die jetzt mit den verteuerten Auslandsprodukten wieder konkurrieren kann, ist ein frommer Wunsch: In einer derart importabhängigen Wirtschaft dürften sich Preisschübe sofort bis in den letzten Winkel der nationalen Produktion niederschlagen.

Seit einem Jahr ist Mexiko Teil der „größten Freihandelszone“ der Welt, mit über 360 Millionen Menschen, die im Jahr zusammen Waren und Dienste im Wert von 6,5 Billionen Dollar herstellen – fünf Prozent davon in Mexiko. Was hat Nafta der mexikanischen Wirtschaft gebracht?

Ob es das Nord-Süd-Gefälle nach einem Jahr eher vermindert oder verstärkt hat, darüber scheiden sich die Geister. Während das mexikanische Handelsministerium stolz verkündet, daß man in den ersten neun Monaten 25 Prozent mehr in die USA verkauft habe als noch im Vorjahr, weist das Nafta- kritische Aktionsnetzwerk RMALC darauf hin, daß das Handelsbilanzdefizit dieses Jahr dennoch auf 17 Milliarden Dollar klettern werde (1993: 13,5 Milliarden). Auch die dringend notwendige Diversifizierung werde mit Nafta wieder in weite Ferne gerückt: 83 Prozent der mexikanischen Verkäufe gehen mittlerweile in die USA, während diese umgekehrt nur 7,3 Prozent ihrer Importe aus Mexiko beziehen.

Dagegen ist der Handel mit der Europäischen Union drastisch zurückgegangen: Auf gut 35 Prozent schätzt die deutsche Botschaft in Mexiko den Einbruch. Zu den wichtigsten Exporteuren Mexikos zählt aber weiterhin die Autoindustrie: Zwar verkündete Bill Clinton seinen Landsleuten kürzlich den 500prozentigen Anstieg der Autoexporte gen Süden, dennoch verkauften die in Mexiko ansässigen ausländischen Autofirmen bis September immer noch zehnmal mehr Fahrzeuge in die USA.

Fast noch beunruhigender als das Handelsbilanzdefizit ist nach Aussage des RMALC-Experten Hector de la Cueva die Tendenz zur „Desindustrialisierung“ Mexikos. Nachdem schon in den letzten Jahren viele tausend Betriebe aufgrund der einseitigen Öffnung nach Norden dichtgemacht hatten, verschärft sich mit Nafta die Polarisierung zwischen den Gewinnerbranchen – wie dem Baugewerbe oder den traditionellen Großexporteuren – und der „wettbewerbsschwachen“ Klein- und Mittelindustrie. In In- und Ausland geht die Nachfrage nach Produkten, made in Mexiko, zurück: Die Umsätze beim mexikanischen Mittelstand sind dieses Jahr im Schnitt um 17 Prozent gefallen, bei den Kleinstunternehmern sogar um ein Fünftel.

Daß Nafta Arbeitsplätze vernichtet und nicht etwa geschaffen hat, darüber scheint man sich einig zu sein. Die Zahlen variieren jedoch beträchtlich: Spricht das Arbeitsministerium noch vorsichtig von 25.000 verlorengegangenen Arbeitsplätzen in den ersten sechs Monaten, so sind es nach einer Gewerkschaftsstudie 425.000 Beschäftigte, die dieses Jahr ihren Job verloren haben. Besonders delikat ist die Lage der Landwirtschaft: Nach Berechnungen der RMALC erhöht sich das Agrardefizit mit den USA in den ersten neun Monaten um 64 Prozent. Selbst bei den als „hochsensibel“ eingestuften Produkten wie Mais – dem bis zur vollständigen Öffnung noch eine Schonzeit von 14 Jahren bleibt – wurde seit Jahresbeginn schon siebenmal soviel eingeführt wie noch im Vorjahr. Und wie das Produktivitätsgefälle zur Maismacht USA in ein paar Jahren aufgeholt werden soll, bleibt das Geheimnis der Agrarbehörden: So müssen chiapanekische Maisbauern 18 Tage arbeiten, um eine Tonne Mais zu erwirtschaften, ihre Kollegen im Norden brauchen dazu im Schnitt eine Stunde. Im allgemeinen sind die Exporthemmnisse für Agrarprodukte aus dem Süden sowieso eher nichttarifärer Art. Ein mexikanischer Händler unternahm dazu kürzlich ein Experiment: Er kaufte in den USA mehrere Fässer Milch, vertauschte die Etiketten und versuchte diese Milch dann wieder gen Norden zu exportieren – leider vergeblich. Die Grenzbeamten hatten bei Laborproben „gesundheitsschädigende Bakterien“ entdeckt.

Das mexikanische Handelsministerium aber sieht keinen Grund zur Beunruhigung: allen politischen Krisen zum Trotz hatte man 1994 schließlich fast 9 Milliarden Auslandsinvestitionen ins Land gelockt, fast 30 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Die Kehrseite der Medaille: Über die Hälfte der Gelder war ins Börsengeschäft und der Rest in wenig beschäftigungsintensive Branchen wie Telekommunikation geflossen. Besonders die Rückkehr der ausländischen Banker, die vor fast sechzig Jahren des Landes verwiesen wurden und nun dank Nafta wieder hereindürfen, wird als Meilenstein in der mexikanischen Modernisierung gefeiert. Belebende Konkurrenz aber ist von den 52 Auslandsbanken kaum zu erwarten. Bedient werden in den Büros der Finanzelite nicht das Klein- und Mittelgewerbe, das am dringendsten auf ein funktionierendes Finanzsystem angewiesen wäre, sondern vorzugsweise nur Groß- und multinationale Kunden.

Damit diese aber nach dem Währungsdebakel nicht wieder das Weite suchen, wird Mexiko einiges bieten müssen. So hatte ein US-Investor kürzlich die Reprivatisierung des staatlichen Erdölkonzerns Pemex, einer der größten Ölfirmen der Welt, gefordert. Aber da zaudert die Regierung: Noch gestern schloß die eine Privatisierung des Konzerns aus. Anne Huffschmid, Mexiko-Stadt