: „Theoretisch haben wir Frieden“
In der israelisch besetzten Westbank wächst die Enttäuschung über die Verzögerung des Friedensprozesses / Konflikte um die jüdischen Siedlungen ■ Von Khalil Abied
Mittags klingelt es plötzlich an Abu Hillals Wohnungstür. Der palästinensische Lebensmittelhändler, der im Stadtzentrum von Nablus in der israelisch besetzten Westbank lebt, erwartet eigentlich keinen Besuch. Vor der Tür steht ein junger Mann, ganz außer Atem und auf der Flucht vor einer Patrouille israelischer Soldaten. „Können Sie mal aus dem Fenster sehen, ob sie weg sind?“ fragt er. „Komm rein und bleib hier, bis sie verschwunden sind“, entgegnet Abu Hillal und läßt den unerwarteten Besucher herein. Einen Moment lang herrscht Schweigen im Wohnzimmer der Familie des Mittfünfzigers. Früher hätte der junge Mann sicher zusammen mit seinen Freunden Steine auf die Soldaten geworfen. Aber nach dem Osloer Abkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vom Herbst 1993 halten die Palästinenser von solchen Protestaktionen nicht mehr viel. Nach sechs Jahren Aufstand gegen die Besatzung, Auseinandersetzungen mit den israelischen Soldaten, Streiks, Ausgangssperren, Toten und Verletzten wollen sie heute in Ruhe und Frieden leben. Aber den Jugendlichen hat der Frieden bisher keine Sicherheit gebracht. Für die israelischen Soldaten sind sie nach wie vor verdächtig, nach wie vor werden viele festgenommen. Andere, die als Mitglieder bewaffneter Gruppen gelten, werden von israelischen Sondereinheiten, die sich als Palästinenser verkleiden, gejagt und erschossen.
Abu Hillals Frau, die dem jungen Mann Tee und etwas zu Essen bringt, bricht als erste das Schweigen. „Manchmal überlege ich, ob es nicht doch besser ist, wieder mit der Intifada zu beginnen“, sagt sie bitter. Die Anwesenden, Abu Hillal und seine fünf Söhne und Töchter, nicken zustimmend. „Damals waren wir uns zumindest unserer Würde bewußt. Der Kampf gegen die Besatzung gab uns ein Gefühl der Stärke. Heute wissen wir nicht, was mit uns geschehen wird“, fügt sie hinzu.
In Gesprächen ist immer wieder von chaotischen und verwirrenden Zuständen die Rede, wenn die Situation seit dem Friedensabkommen beschrieben wird. „Es ist wie ein Bad ohne Wasser, wie der Tag des jüngsten Gerichts“, lauten arabische Ausdrücke dafür. Ein besonders beliebtes Beispiel für das allgemeine „Chaos“ und wie es sich im Kleinen niederschlägt, ist der Verkehr. „Hey, kannst du deinen Panzer nicht besser parken, ich kann nicht vorbeifahren“, schimpft ein Autofahrer am Dawar-Platz im Zentrum von Nablus. „Wer dir den Führerschein gegeben hat, sollte hingerichtet werden“, gibt der Angesprochene zurück. Das laute Schimpfen und Schreien der Autofahrer, das sich mit dem Lärm ihrer Hupen verbindet, gehört zum Alltag. Vom frühen morgen bis zum späten nachmittag herrscht ein einziges Gedränge. „Es gibt keinen einzigen Verkehrspolizist, der für Ordnung sorgt“, schreit ein Taxifahrer erbost.
Aber nicht nur die Autofahrer machen ihrem Unmut Luft. Auch die Besitzer der Geschäfte sind unzufrieden. Sie beschweren sich über die zahlreichen Straßenhändler, die in den letzten Monaten aufgetaucht sind und den Markt mit billigen Waren überschwemmen. „Wir haben keine Autorität, die für Disziplin sorgt“, klagt einer.
Nablus mit seinen knapp 200.000 Einwohnern ist das politische und wirtschaftliche Zentrum des nördlichen Teils der Westbank. Schon immer war die Stadt für ihre Olivenbäume berühmt, die für die Muslime auch Friedenssymbole sind. Nablus produziert das beste Olivenöl und die reinste Seife. „Jabal al-Nar“, Berg des Feuers, nennen die Palästinenser die Stadt wegen ihrer Lage am Fuße zweier Berge und der langen Tradition des Widerstandes gegen auswärtige Eroberer. Nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens fanden hier die größten Demonstrationen für den Frieden mit Israel statt. 50.000 Menschen gingen damals auf die Straße.
Der Frieden hat seine Spuren in der Stadt hinterlassen. „Oslo“ und „Madrid“ nennen die Bewohner die neuen, modernen Gebäude, die seither errichtet wurden. Schon mit Beginn der Friedensverhandlungen auf der Madrider Konferenz Ende Oktober 1991 gab es die ersten Wohnungsbauprojekte, und seit dem Osloer Abkommen verstärkte sich dieser Trend. Wohlhabende Palästinenser verbrauchten Stunden, um über künftige Investitionen zu diskutieren.
Damit scheint es heute vorbei zu sein. Die neuen „Oslo“- und „Madrid“-Gebäude stehen im Rohbau da oder sind unbewohnt. Keiner wagt, einen Pfennig zu investieren, da die Verhandlungen zwischen Israel und der PLO festgefahren sind, die Perspektiven für Investitionen unsicher und die Stadt zudem von einer Rezession betroffen ist. Die Folgen sind eine zunehmende Arbeitslosigkeit und eine abgrundtiefe Enttäuschung.
„Theoretisch haben wir Frieden. Praktisch leben wir noch unter der Besatzung“, sagt Maa'z Nabulsi, der Leiter der Handelskammer der Stadt. „Unsere Lage hat sich mit dem Friedensprozeß verschlechtert. Die Glaubwürdigkeit des Friedensprozesses verringert sich in dem Maße, wie immer mehr Zeit verstreicht.“
Die Altstadt von Nablus war während der Intifada das Paradies der Jugendlichen und der Alptraum der israelischen Soldaten. Die engen Gassen und die dichte Bauweise boten den Jugendlichen ein ideales Terrain und zahllose Fluchtmöglichkeiten. Während die Soldaten in den Straßen festsaßen, turnten die Aktivisten über die Dächer. Heute betreten die Soldaten die Altstadt nicht mehr. Die kleinen Märkte wimmeln tagsüber von Menschen, nachmittags sind sie ausgestorben. Die Geschäftsleute, die sich während der Intifada an den Steiks beteiligten und ihre Länden nur vormittags geöffnet hatten, haben sich daran gewöhnt, mittags die Rollos herunterzulassen. Die schlechte wirtschaftliche Lage wirkt auch nicht gerade motivierend. Und die Ladenbesitzer haben Probleme mit einigen ehemaligen Intifada-Aktivisten, die drohen, die Geschäfte zu verwüsten, falls die Besitzer nicht bereit sind, eine monatliche Summe zu entrichten. „Wir wollen eine palästinensische Regierung und Polizisten, die uns schützen“, hört man überall in der Stadt.
Nach dem Osloer Abkommen sollten sich die israelischen Truppen eigentlich bis spätestens Juli letzten Jahres aus allen Orten und FLüchtlingslagern der Westbank zurückgezogen haben und durch palästinensische Polizisten ersetzt worden sein. Auch die Wahlen zu einem palästinensischen Legislativrat hätten längst stattfinden sollen. Aber geschehen ist nichts.
Nach den Anschlägen radikaler Islamisten nahm die israelische Seite Abstand von einem baldigen Truppenrückzug, der vor den Wahlen stattfinden sollte. Sie will nun auch die im Osloer Abkommen vorgesehene Umgruppierung der Soldaten in der Westbank revidieren. Statt dessen schlug die Regierung unter Ministerpräsident Jitzhak Rabin vor, zunächst die Soldaten aus einigen Städten wie Nablus oder Ramallah abzuziehen.
Umstritten sind auch die Kompetenzen des zu wählenden palästinensischen Rates sowie die Frage, wer bei den Wahlen kandidieren darf. Die palästinensische Verhandlungsdelegation äußerte zwar Verständnis für die israelischen Bedenken in der Sicherheitsfrage, besteht aber auf der Einhaltung der vorgesehenen Etappen für den Truppenrückzug und die Wahlen. Bislang konnte die Kluft zwischen beiden Positionen nicht überbrückt werden.
Anders als in Nablus ist die Präsenz der israelischen Soldaten in Hebron im Süden der Westbank heute sogar noch stärker als vor der Unterzeichnung des Osloer Abkommens. „Das Wort ‘Frieden' hat bei uns noch keine Bedeutung“, sagt ein Taxifahrer.
Die Einwohner von Hebron sind die palästinensischen Ostfriesen und als solche Gegenstand zahlreicher Witze. Sie gelten als hartnäckig, naiv und geizig. Die Einwohner der Stadt haben gegen diese Attribute nichts einzuwenden, im Gegenteil, sie halten solche Qualifizierungen gerade für ihre Stärken. „Mit unserer Hartnäckigkeit konnten wir der israelischen Besatzung trotzen“, sagt der vierzigjährige Rechtsanwalt Abu Khaled. „Unsere Naivität macht die Israelis manchmal verrückt. Und unser wirtschaftlicher Erfolg geht auf unseren Geiz zurück.“ Hebron ist das wichtigste wirtschaftliche Zentrum der Westbank. Die Stadt mit ihren 150.000 Einwohnern ist bekannt für die Produktion von Textilien, Schuhen, Papier, Möbeln aus Metall und für die Steinbrüche in der Umgebung.
Seit dem Massaker in der Abraham-Moschee im Februar letzten Jahres, bei dem ein Siedler 29 Palästinenser tötete, hat die Stadt ihr Zentrum verloren. Die israelische Besatzungsmacht errichtete an allen Straßen, die in die Innenstadt führen, Kontrollposten. Seither vermeiden die Menschen den Weg ins Zentrum, um den strikten und gelegentlich auch demütigenden Kontrollen zu entgehen. Manchmal dauert es eine halbe Stunde bis man den Posten überwinden kann.
Die Innenstadt wirkt gespenstisch. Von den 540 Geschäften haben 150 dichtgemacht. „Der Wert meines Ladens ist von 250.000 Jordanischen Dinar (ca. 550.000 DM) auf Null gesunken“, sagte ein Geschäftsmann. „Früher habe ich pro Tag Waren für 300 JD verkauft. Heute bin ich froh, wenn ich 10 JD verdiene.“Die israelische Besatzungsbehörde begründet ihre Maßnahmen damit, sie wolle Konfrontationen zwischen Palästinensern und Siedlern vermeiden.
Aber die Palästinenser befürchten, daß sie gezwungen werden sollen, das Stadtzentrum zu verlassen. Dort haben sich im Laufe der Jahre rund 400 Siedler niedergelassen. Hinter dem Zentrum und den beiden Siedlungen liegt die Altstadt Hebrons, die nun langsam zerfällt. „Die Israelis erlauben uns nicht, unsere fast baufälligen Häuser zu restaurieren“, sagt Um Mohammed, die dort wohnt. „Wir erhalten grundlegende Dienstleistungen nicht. Sie wollen uns aus unseren Häusern vertreiben, um ihre Siedlungen zu vergrößern“, gibt sie die weit verbeiteten Ängste wieder. Die Siedlungen werden von israelischen Soldaten geschützt. Für die benachbarten Palästinenser bringt das zahlreiche Probleme mit sich. „Sie erlauben uns nicht, auf die Veranda oder das Dach zu gehen. Manchmal dürfen wir unsere Häuser nicht betreten“, sagt eine Palästinenserin, die etwa 20 Meter von einer Siedlung entfernt wohnt.
Weitere Siedlungen umgeben die Stadt wie ein Ring. Hier wurden nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens mehrere Landstücke beschlagnahmt und neue Häuser errichtet. In der Siedlung Kiriat Arba gibt es Dutzende noch leerstehender Häuser. Mit der Vergrößerung der Siedlungen soll die demographische Situation der Stadt verändert werden, befürchten Palästinenser. Die Zukunft der 140 Siedlungen mit ihren 120.000 Einwohnern (Palästinenser: 1,3 Millionen) wird Thema der Verhandlungen über eine endgültige Friedensregelung sein. Deren Termin steht in den Sternen. Nach dem jüngsten Konflikt um die Erweiterung der Siedlung von Efrat bei Bethlehem haben die Palästinenser damit begonnen, „Volkskomitees für die Verteidigung des Landes“ zu bilden. Auf einer Kundgebung in Beit Sahur sagte der palästinensische Minister für Kultur, Jassi Abd Rabbo, kürzlich vor tausenden von Leuten: „Wenn der Frieden auf Kosten unseres Landes geht, dann sagen wir: zur Hölle mit einem solchen Frieden.“
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