Durch diese hohle Gasse muß er kommen

Aber der erhoffte kollektive Aufschrei aufrechter russischer Parlamentarier gegen die Greuel des Krieges in Tschetschenien blieb auf der gestrigen Sondersitzung der russischen Duma aus  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Früher, zu Sowjetzeiten, nahmen sich die zahlreichen Hinterbänkler und -wäldler im Obersten Sowjet der Russischen Föderation aus, als träten sie gerade zur Visite bei Väterchen Zar an. Heute, im neuen funktionalen Glas- und Zementgebäude, versehen mit reichlich technischem Spielzeug, wirken viele, als habe es sie schlicht ins falsche Jahrhundert verschlagen. Natürlich setzt sich die russische Duma anders zusammen, und doch überrascht es, wie viele Gesichter seit vier Jahren unverändert aus Rußlands parlamentarischem Rahmen blicken.

Mit einer gemeinsamen Initiative zwecks Ausfüllung dessen, was man hier das „Verfassungsloch“ nennt, waren die beiden Demokratenfraktionen „Rußlands Wahl“ und „Jabloko“ gestern früh zu einer von ihnen selbst einberufenen Sondersitzung angetreten. Die letzten Monate hatten nämlich der russischen Öffentlichkeit gezeigt, daß ihr die Möglichkeit parlamentarischer Kontrolle über Regierungsaktionen fehlt. Nun besagt aber ein Paragraph in der russischen Gesetzgebung, daß der Präsident in seiner aktuellen Politik nicht nur die Verfassung, sondern auch die aktuelle Gesetzgebung zu beachten habe. Durch diese hohle Gasse sollte gestern also eine Reihe neuer Gesetze schlüpfen, zum Beispiel „über das Verbot für die Streitkräfte der Russischen Föderation, auf russischem Territorium Kampfhandlungen zu führen“ und Ergänzungen zu dem Gesetz „über die Staatsausgaben im ersten Quartal 1995“.

Statt dessen aber siegte nach kurzer Diskussion ein Vorschlag der Kommunisten, der derlei Gesetze nicht ausschließt, aber erst einmal die Bildung einer parlamentarischen Kommission zwecks Untersuchung der Geschehnisse in Tschetschenien vorsieht. Um die ganze Sache noch mehr auszuwalzen, beschloß man auch noch, erst einmal alle Deputierten anzuhören, die schon in Tschetschenien waren – inzwischen fünf Dutzend.

Auch auf ihrer sechsten Sitzung zum Thema Tschetschenien hat die Duma also nur geredet und nichts bewirkt. Denn schließlich haben weder Kommunisten noch Schirinowskis Liberaldemokraten Lust, Verantwortung zu teilen. Ganz deutlich sagte dies der Vertreter der letzteren, Marotschek: „Schuld an dieser Aktion sind allein Präsident Jelzin und ,Demokraten‘ wie Sergej Kowaljow, Grigori Jawlinski und Jegor Gajdar.“

Wladimir Lukin, der das L im Wort „Jabloko“ repräsentiert, fand sein vorläufiges Scheitern nicht so schlimm: Immerhin hätten die wortgewaltigen Auftritte demokratischer Abgeordneter auf Hinterbänkler-Gemüter gewirkt. Ob die dröhnende Versicherung des schlafzimmeräugigen Petersburger Deputierten und Fernsehsensationalisten Alexander Newsorow, in Tschetschenien würden russische Gefangene kastriert, dies neutralisierte? Mit selbstgeschossenen Riesenfotos untermalte eine Inguschetin von der Fraktion „Frauen Rußlands“ ihren Bericht über Verbrechen gegen die Menschenrechte. Als Pater Gleb Jakunin dann noch eine Bibel aufs Pult knallte – „als Anschauungsmaterial dafür, daß ein paar elementare menschliche Gesetze sogar über der Verfassung stehen“ –, war es dem Vorsitzenden Rybkin zuviel: „Bitte keine materiellen Beweisstücke mehr!“

Enttäuscht über den Gang der Debatte zeigte sich die sympathisch-mopsgesichtige Ella Pamfilowa von „Rußlands Wahl“, Mitglied der ersten Abgeordnetengruppe, die in Tschetschenien war und Gefangene heimführte. „Jetzt darf man die Greuel nicht mehr besingen, sondern muß sie stoppen“, beklagte sie sich im Fahrstuhl: „Aber was wollen Sie denn verlangen, wenn nicht mal unsere Abgeordneten aufhören können, sich gegenseitig zu zerfleischen?“