■ Vorlesungskritik
: Der genialste Kunsthistoriker seiner Zeit

„Es ist schön, daß man sich auf einer Baustelle befindet. Das zeigt, daß sich etwas verändert.“ Horst Bredekamp gibt sich gern als Zyniker – nicht nur in seiner Vorlesung. Auch wenn er als Dekan der Philosophischen Fakultät III die Humboldt-Universität repräsentiert, läßt er an der eigenen Hochschule kaum ein gutes Haar. Es ist offenkundig: Der Kunsthistoriker sieht sich in seinen Erwartungen getäuscht. Seit 1982 Professor in Hamburg, kam er zunächst für ein Jahr am Wissenschaftskolleg, wo er sein Buch über „Florentiner Fußball“ schrieb, nach Berlin und blieb schließlich hier, um seinem Fach an der Linden-Universität neuen Glanz zu verleihen.

An Anlässen für Bredekamps bissige Bemerkungen mangelt es im Ostberliner Uni-Alltag nicht. Diesmal sind die Steckdosen wegen der Hörsaal-Renovierung verstellt und Verlängerungsschnüre nicht greifbar, so daß die in einer Kunstgeschichts-Vorlesung unvermeidlichen Diaprojektoren nicht einsatzfähig sind. Den nächsten Aufhänger geben die Schwierigkeiten ab, einen Raum für die Antrittsvorlesung einer Kollegin zu finden: „Gute Frage, ich könnte darüber lange erzählen!“ Er müsse pünktlich schließen, verkündet er noch, wegen eines Termins „im Westen“. Es klingt nach Flucht.

Heute geht es um eine „Revolution in der Architektur“, zwei Entwürfe Michelangelos, die, obgleich nie realisiert, „die Regeln der Architektur auf den Kopf stellten“: das dritte Konzept für das Grabmal Papst Julius' II. von 1516 und die Fassade für die Kirche San Lorenzo in Florenz, den Brunelleschi-Bau, dessen Front sich noch heute in rohen Ziegeln präsentiert, „eine Scharte in der mediceischen Kunstpolitik“. Michelangelo kehrte in beiden Fällen „das gewohnte Verhältnis zwischen Stütze und Last um“. Er begann „nach Skulptur und Malerei auch die dritte Gattung unter seinen Willen zu zwingen“.

Doch baute der Künstler eine Legendenkette auf, wie Bredekamp glaubt, um den schnöden Vertragsbruch in Rom und das rücksichtslose Buhlen um den Auftrag in Florenz zu verschleiern – „eines der düstersten und menschlich bedenklichsten Kapitel seines Lebens“, in dem er „alle Register der Intrige gezogen“ habe. Als er endlich am Ziel war, ließ er alle Kartons in seiner Werkstatt verbrennen: „Er warf den Ballast der Vergangenheit über Bord.“ Unterdessen erhielten Sansovino und Andrea del Sarto den Auftrag für eine provisorische Scheinfassade, „wir kennen das Phänomen aus den letzten Monaten in Berlin“. Doch scheiterte Michelangelo schließlich, nicht anders als der Professor, an der Materie. Zunächst bestand Papst Leo X. auf Marmor aus seinem eigenen Steinbruch Pietrasanta. Der erwies sich freilich als schwer zugänglich, aber in Carrara war man schon eingeschnappt. Das Genie saß zwischen allen Stühlen und mußte sich, bis der Papst den Vertrag am Ende aufkündigte, mit der Erschließung des Steinbruchs beschäftigen: „Der bedeutendste Bildhauer seiner Zeit hatte vier Jahre Straßen gebaut.“ Fast klingt es so, als fürchte der bedeutendste Kunsthistoriker seiner Zeit, sich vier Jahre lang mit der Organisation einer Universität beschäftigen zu müssen. Ralph Bollmann

Horst Bredekamp, Michelangelo II, Dienstag 18 bis 20 Uhr, Humboldt-Universität, Hauptgebäude, Hörsaal 3075.