Interview auf der Vorstadtwiese

„Shorty“, ein Film über den Loserpopstar Rolf Egon Wölfle im Friseur und im High Noon  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Es gibt tausend Methoden, sich historischen, politischen oder biographischen Wirklichkeiten anzunähern. Man kann lesen, Filme gucken, im freien Feld herumrecherchieren, tausend Gespräche führen, aufzeichnen, protokollieren, in der Hoffnung, daß aus der Summe der Geschichten so etwas wie Geschichte entsteht, die mehr ist als die Ansammlung von Fakten, Fakten, Fakten – die von einem Gefühl begleitet wird, das erst entsteht, wenn das gesammelte Material Analogien bildet zu eigenem; wenn Geschichte sich also in irgendeiner Weise wiederholt in den eigenen Erfahrungen.

Diesen Prozeß der Wiederholung benutzt die Psychoanalyse in der Hoffnung, daß die Aneignung der eigenen Geschichte zur Wiederherstellung und Gesundung führt. Indem man das Dokumentierte nachspielt und dramatisiert, kann man sich auch ästhetisch fremden Wirklichkeiten annähern. Man könnte zum Beispiel die anrührende Stasi-Beichtdiskussion mit Lutz Bertram, Christoph Singelnstein und Mathias Greffrath wiederholen: einer spielt Bertram, ein anderer macht den Greffrath, ein anderer wieder Singelnstein.

Revivals – wie die schon etwas verstaubte Wiederholung der 70er Jahre – sind produktiv und lehrreich, wenn sie als bewußte Wiederholung inszeniert werden. Vielleicht ist es sogar so; vielleicht gibt es irgendwo eine K1 mit einem lustigen, jungen Technokunzelmann etc. Michael Dreyer nähert sich in „Shorty“ der unspektakulär coolen Lebensgeschichte des 1946 geborenen und 1989 gestorbenen Schwarzwälder Loserpopstars Rolf Egon „Shorty“ Wölfle an, indem er sie wiederholt. „Shorty“ ist ein Dokumentarspiel.

Das Drehbuch besteht aus O- Ton-Protokollen von Interviews, die der Filmemacher mit den Freundinnen von „Shorty“ geführt hat. Die Szenerie des Films richtet sich nach atmosphärereichen Schwarzweißfotos aus der Zeit zwischen 1972 und '78. Der Star der Hamburger Politfunpunkkapelle, Ex-„Goldene-Zitronen“ und „Motion“, Schorsch Kamerun, spielt und spricht Shorty; Svenja Rossa vom Art Director's Club und die geniale berlinfranzösische Sängerin und Schlagzeugerin Françoise Cactus (Ex-Lolitas; jetzt „Stereo Total“) spielen Shortys Freundinnen.

„Shorty“ funktioniert wie ein Dokumentarfilm – längere, in großartigen 60er-Jahre-Lokalen, Schrankwandwohnzimmern, Treppenhäusern, am Fenster, auf Couchgarnituren oder Vorstadtwiesen gedrehte Interviewpassagen wechseln einander ab. Die Geschichte kommt im Sprachgestus vorbei. Erst im Nachsprechen (und im Hören des Nachgesprochenen) werden die Worte des halbseidenen Plattenauflegers (bis ins Guinness-Buch der Rekorde), des angesoffenen Charmeurs, von dem „eine starke Faszination“ ausging, des Schlagzeugers, Fabrikarbeiters, Drogennehmers und Trinkers, der „von Haus aus Komplexe“ hatte, weil er so klein war, Fleisch (Emotion statt Information): „Wer studiert, bekommt einen eingeschränkten Blick auf die Realität. Die wahre Welt findet aber in diesen Kreisen statt, in denen Zuhälter und Huren sich bewegen. Da ist Menschlichkeit und Herz. Alles andere ist spießig und verlogen.“ Oder: „Ich habe mich teilweise als Zuhälter betätigt und bin auch unterwegs gewesen mit meiner Band in Norwegen.“ Oder – über den Moment des Sichverliebens, hintereinander gesprochen von Shortys Freundin und ihm selbst: „Da war sofort was da. – Also sofort: Aha!!“

Das Bild der 60er und 70er Jahre, der Polit-, Kneipen-, Drogenszene, das Bild von Shorty, das der Film entwirft, ist um so überzeugender, als daß die Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem brechtmäßig zugleich betont – es sind Profimusiker, aber Laienschauspieler, die Interviewpassagen nachsprechen – und in der Betonung wieder aufgehoben wird. Man spürt in jeder Szene des Films die distanzierte (also: herzzerreißende) Sympathie der Darsteller mit Shorty und seinen Freundinnen.

„Shorty“ ist in jeder Hinsicht ein Superklassefilm. Nach der Vorführung spielen die „Kifferspiesser“ mit Schorsch Kamerun, Françoise Cactus, Jens Kraft und Michael Dreyer. Im Film lernt man übrigens auch, daß Filterzigaretten viel existentieller wirken als Ohne-Filter-Zigaretten.

„Shorty“, Kamera: Sharon Lockhart, ca. 60 Minuten, heute im Friseur, Kronenstraße 3, morgen im High Noon, Brunnenstraße 192, beides Mitte.