Gefühl großer Wahrhaftigkeit

Penner, Trinker, Suizidkandidaten: die Verliererwelt der Songwriter ist wieder aktuell. Trotzdem ist der Loser kein Gegenstück zum Yuppie  ■ Von Jörg Feyer

Verwundert reibt sich der Beobachter die Augen. Wird nicht alle Jahre wieder – meist pünktlich zur Buchmesse – der Niedergang der traditionellen Lesekultur beschworen? Schwadronieren nicht alle, die den Geist der Zeit zu kennen glauben, von interaktiver Kommunikationswut, die Bilder ohne Bildschirm nicht zu kennen scheint? Und gilt nicht als gesicherte Erkenntnis, daß die hektisch montierten Bilderfluten von MTV und Viva längst die Köpfe einer Jugend okkupiert haben, die angeblich hart am Rand der Artikulationsfähigkeit entlangtaumelt?

Verwundert darf man also schon sein, wenn ein Mann namens David Gray im Waschzettel seines zweiten Albums ohne den leisesten Anflug von Ironie verkündet, er glaube „an die Macht des Wortes.“ Prompt verkündigt Joan Baez, sie habe „die besten Songtexte seit Bob Dylan“ gehört. Was Gray nur bedingt in den Kram passen kann, behauptet er doch im selben Atemzug, „mit dem Folk der sechziger Jahre und dessen gesellschaftlichem Kontext nichts am Hut“ haben zu wollen.

Gray ist nur einer von vielen. Und auch seine Distanzierung von den alten Heroen deutet bereits an, daß sich hier nicht nur der in die Jahre gekommene Anhänger der „handgemachten-Mucke“-Fraktion verführt sehen darf. Auch das weltschmerzgeplagte Grunge-Kid, das sich nicht auf anonym dröhnende Techno-Sinnstiftungen einlassen will, kann sich berechtigte Hoffnungen auf Linderung der Seelenqualen machen.

Kein Zweifel: Singer/Songwriter, diese einsamen, oft totgesagten Gesellen mit der einen Hand an der Gitarre und der anderen am Bauchnabel, sind in der Nachfrage gestiegen – und damit ist weniger die Figur eines Beck gemeint; Beck ist insofern eher untypisch für das hier zu Verhandelnde, als er nicht nur ein Songwriter, sondern vor allem ein MTV-Image ist. Via Videoclip und entsprechender Multiplikatorentätigkeit genießt er eine Öffentlichkeit, von der viele seiner vor allem älteren Kollegen nur träumen dürfen – wenn auch manchmal eher in Alpträumen.

Doch in dem Song, der ihn berühmt gemacht hat, hat Beck ganz offensiv eine Figur in den Mittelpunkt gerückt, die auch im ×uvre seiner unbekannteren Zunftgenossen eine gewichtige Rolle spielt. Der „Loser“, der sich (ironisch?) den Tod wünscht, ist ja nicht nur Metapher einer (vermeintlich) gescheiterten Generation, die sich ihren Zuschreibungen immer weiter entziehen möchte, je hartnäckiger sie ihr zugedacht werden. Verlierer jedweder Couleur – Penner, Trinker, Suizidkandidaten, LiebesverräterInnen, Kommunikationsunfähige, einfach am Leben Gescheiterte – dominieren auch die Songs von Townes van Zandt, Butch Hancock oder der Band Gutterball mit Steve Wynn – um nur einige zu nennen.

Wynn, der ehemalige Chef der Gruppe Dream Syndicate, attestiert jedem „die Fähigkeit, die Kontrolle zu verlieren. Doch die meisten Leute entscheiden sich dagegen, diese Grenze zu überschreiten. Also bleibt es Songschreibern vorbehalten, diesen letzten Schritt für sie zu tun“. Mit anderen Worten: Gefühle und Geschichten aus erster Hand machen, hart an der Grenze zum Voyeurismus, unsere Second-Hand-Emotion erst möglich.

Nostalgischer Appetit auf Orte

Doch in diesen Songs warten nicht nur prima Ersatzkämpfe, über die man manchmal auch noch lachen kann. Sie bescheren nicht nur die beruhigende Erkenntnis, daß es nach wie vor ein gutes Amerika im (Reich des) Bösen zu geben scheint. Viele von ihnen bedienen auch ein romantisches Bedürfnis nach imaginären Orten, die sich schon im Klang der Worte zu materialisieren scheinen. „Railroad Tracks“ kommen nun mal einfach besser als Eisenbahnschienen. Und wenn ein Butch Hancock von seinen „Boxcars“ schwärmt, die ihm – so verworren die Lage auch sein mag – immer wieder Trost und Zuflucht sind, weckt er damit allemal „einen fast nostalgischen Appetit auf Orte, die man noch nie gesehen hat“ (so der britische NME über Hancocks texanischen Kollegen und Geistesbruder Robert Earl Keen).

Offizieller Geheimtip auf dieser Schiene aber ist seit Jahren der hagere Texaner Townes van Zandt. Immer wieder wird er von den Feuilletons „entdeckt“, meist der Empfindungstiefe seines Vortrags wegen. Seine Songs, meint der amerikanische Rock-Schreiber Robert Palmer, vermitteln das Gefühl, „einen unverstellten Blick in die Seele eines Menschen werfen zu können“.

Von einem „Gefühl von großer Wahrhaftigkeit“, das ihn beim Hören durchströme, berichtet auch Label-Betreiber Peter Schneider, wenn er sein Engagement für van Zandt im besonderen und ähnlich gelagerte Songwritern – Michael Hurley, Dave Olney – im allgemeinen begründen soll. Das seien halt noch „große Persönlichkeiten“, die auch kostspielige Finanzabenteuer rechtfertigten.

Kaum Umsätze jenseits der 1.000er

Denn der schwärmerische Enthusiasmus des Machers der „Veracity Musik Produktion“ – mit Sub-Label „Roadsongs“ – eilt dem Umsatz (noch) voraus. „Beim Publikum kann man noch nicht von einem Boom sprechen“, weiß Schneider, die Verkaufszahlen würden den guten Kritiken „weit hinterherhinken“.

Auch in der Zentrale von Glitterhouse Records in Beverungen, einem Label, das sich seit rund einem Jahr intensiv um Singer/Songwriter wie Richard Buckher oder Terry Lee Hale bemüht, ist man's halbwegs zufrieden, wenn beispielsweise die neue CD des Walkabouts-Kumpels Larry Barrett jenseits der 1.000er Marke liegt.

In Deutschland, wohlgemerkt. Denn europaweite Deals, die in der Regel abgeschlossen werden, öffnen die Pforten nach Skandinavien, nach Frankreich oder Italien, wo viele dieser Künstler zumindest schon mal fest im Sattel einer treuen Kult-Gefolgschaft sitzen und mit 3-Seiten-Stories bedacht werden – während hier in der Regel bestenfalls eine Randnotiz herausspringt.

Trotz allem ist Europa – der Kontinent, der das abendländische Modell des Autors als Eigenbrötler hervorgebracht hat – das Land der neuen Möglichkeiten. In den USA gelten viele Singer/Songwriter der unterschiedlichsten Kategorien, zumindest in den Chefetagen der Plattenindustrie, bestenfalls als verschrobene Existenzen – jenseits aller Vermarktungsoptionen. Die Chancen auf einen ordentlichen Plattenvertrag im eigenen Lande sind entsprechend gering, sofern der Kandidat sich nicht irgendwie auf die inzwischen gängige Vermarktungsschiene „alternativ“ hieven läßt. An dieser Tatsache kann auch ein Beck kaum rütteln.

Der neue Glaube an das Wort, die Romantik der Straße, die Sehnsucht nach dem unkorrumpierten Gefühl bleibt auf andere Kanäle angewiesen als die großen, die offiziellen. Und doch - oder gerade deswegen – hat es seit dem letzten Herbst eine kleine Veröffentlichungsflut gegeben, die den „Neo- Folkie“ ebenso anschwemmte wie den klassischen Country-/Blues- Barden, neue Namen wie verschollen geglaubte Veteranen, namenlose Größen wie eingeführte Namen, die sich nach Jahren endlich mit neuem Material zurückmeldeten.

Schrullen, Narben und Wunden

Daß ein Subtrend derart massiv an die Oberfläche durchschlagen konnte, ist immerhin ein Indiz dafür, wie vehement das Bedürfnis nach einer Authentizität gestiegen ist, die sich keinem wie auch immer gearteten Kollektiv mehr einfügen will. Es war ja geschichtlich immer der Zusammenbruch einer kollektiven Identität, eines Glaubens an Veränderung und Durchbruch, der von fahrenden Sängern, Tramps und sonstigen Außenseitern produktiv begleitet wurde – von der großen Depression bis zum Kollaps der Bürgerrechtsbewegung und der enttäuschten Utopie weißer Mittelstandskinder der sechziger Jahre.

Daß nur das radikale und trotzige Beharren auf dissidenter Vereinzelung der Übermacht des Allgemeinen noch ein paar Stunden der wahren Empfindung entgegensetzen kann, paßt nur zu gut in die Neunziger, in denen das Formatradio regiert wie nie zuvor und MTV das Kaufverhalten weltweit vereinheitlicht. Der Einzelne ist der, der sich der falschen Vergesellschaftung durch die Ausbildung von Schrullen, Narben und Wunden verweigert. Mit dem Unterschied nur, daß es nach einem Jahrzehnt Postmoderne und alternativloser Alternative zum ganz großen Gegenentwurf nicht mehr reicht.

Der Loser ist nicht das neue Gegenstück zum „Yuppie“, dem gierigen Erfolgsmenschen der Achtziger, und das liegt auch in der Natur des Verlierens selbst. Denn manchmal sind „Loser“ eben auch nur das: Loser. Keine Romantik, die Sehnsüchte ankurbelt – kein Humor, der ein Lachen provoziert.

Dann könnte es wirklich kritisch werden. Bis dahin brausen wir im Überschwang geborgter Gefühle weiter den „mythischen Highway“ (Robert Palmer) hinunter, der in diesen Songs einladend und offen vor uns liegt. Ohne Airbag und Tempolimit. Und steigen doch letztendlich immer wieder unversehrt aus.