■ Chancen des Lutz-Bertram-Falles jenseits von Befindlichkeitsblasen und der Mär von der Stasi-Hatz:
: Wie lösen von den Akten?

Ein (DDR-)Journalist in der neuen Ausgabe der Wochenpost: „Im Verlaufe eines Tages habe ich mit Lutz Bertram, seinem Führungsoffizier, mit Christoph Singelnstein und Jürgen Kuttner gesprochen. Überall Ratlosigkeit, wie man es richtig machen könnte.“

Die Ratlosigkeit ist wohl das einzige, was von Anfang an in der Stasi-Debatte ausreichend vorhanden war. Konserviert und kultiviert bläht sie sich zu merkwürdigen Befindlichkeitsblasen auf. Warum soll es uns anders als den verschiedenen Galaxien im Universum ergehen, die offensichtlich – nach neuen Theorien – jede für sich in einer Blase abgeschottet dahinexistieren. Unfähig zum Kontakt mit den Nachbarn in der unendlichen Blasensuppe. Innerhalb der deutschen Debatte über den Stasi-Staat haben wir wenigstens Zeitungen, die vom Denken auf anderen Sternen berichten. Der anfangs zitierte Fritz-Jochen Kopka faßt den Fehler bisheriger Diskussionen zusammen: „Das Grauen hat einen Namen. Der lautet IM.“

Wirklich? Haben wir Bürgerrechtler die IMs als Bösewichte aus aller Öffentlichkeit vertrieben? Eine Seite weiter im Blatt diskutiert ein vornehmer IM zwei Seiten lang und plädiert für einen Schlußstrich. Konspirative Zusammenarbeit umschreibt er als „irgendeine Häßlichkeit in (s)einem Leben“. Lothar de Maizière meint nicht das seine. Zu seinem IM-Leben hat er bisher geschwiegen.

So übel sind die Karten nicht verteilt für die IMs im Gesellschaftsspiel, siehe Heiner Müller. Mitleid überwog bei Schwimm- Franziskas Mütterlein, Hermann Kant kokettiert ein ganzes Buch lang mit seinen Decknamen, der um genaue Auskünfte verlegene Verleger vom Prenzlauer Berg bekommt seine regelmäßigen Interviewangebote. In der taz reagierte Henning Pawel seine Aversion gegen Bärbel Bohley und die Gauck- Behörde ab. Kürzlich legten Akten nahe, daß seine Berichte mindestens einmal zur Verhaftung von Menschen beitrugen. Seine gesammelten Verdrängungs-Glossen sind momentan das mit den meisten Anzeigen gesponserte Buch eines Thüringer Autors.

Hauptamtliche Mitarbeiter des MfS klagten in Sachsen-Anhalt erfolgreich gegen die öffentliche Nennung ihres Namens und werden durch Schadensersatzforderungen die Bürgerbewegung „Neues Forum“ in den finanziellen Konkurs treiben. Auch die Reaktionen auf Lutz Bertram und Jürgen Kuttner sind – bei einigem kollegialen Hohn – von sehr viel Verständnis geprägt. Einer der zahlreichen reagierenden Kollegen war übrigens selbst IM, einen Gruß hiermit an ihn und die Bitte, auch dazu seinen Lesern einmal etwas mitzuteilen, bevor er sich gänzlich in die Rolle des Stasi-Experten hineinschreibt.

Ein freier Mitarbeiter des ORB bedauert nun, nie IM gewesen zu sein. Bei einem klugen Eingeständnis seinerseits hätte man ihm mindestens Musiksendungen angeboten. Schon um zu beweisen, daß man IMs nicht fallenlasse. Jetzt bekäme er wahrscheinlich gar nichts. Bald wird Gauck die Akten nutzen müssen, um zu beweisen, daß er nie bei der Staatssicherheit war! Die Mär von der Stasi-Hatz und die Kritik an der Gauck-Behörde reagieren nur den Haß ab, den viele IMs auf sich haben und mit Arbeitswut (siehe Bertram, Stolpe) abzubauen versuchen.

Nicht nur die Akten, auch die Presse gerät da zum Spiegel dessen, was man oder (seltener) frau gern nicht mehr sehen würde. Neben der schwer kalkulierbaren Schuld überführt die öffentliche Debatte die Akteure eben auch als Nicht-Akteure, als Objekte, die nie ganz begreifen können, was für ein Rädchen in welchem Getriebe der Macht sie geworden sind. Jürgen Kuttner und Lutz Bertram führen jene von Beginn nervende IM-Krankheit vor: diese abtrainierte Wahrnehmungsfähigkeit, die im Stasi-Idealfall zu einer ideologisch gefütterten Trance führte, in der man Dinge tat, die keine Erinnerungen hinterließen. Bertram reflektiert das intellektuell, wird aber durch die Vernichtung der Akten nie erfahren, welche verschlüsselten Botschaften er am Telefon empfangen und weitergegeben hat.

Die Vernichtung der Akten aus Schein-Solidarität mit den IMs ist die gemeinste Rache der Firma. Ohne diese Hilfsmittel ist die Vergangenheit kaum noch auflösbar. Alexander Misch, der ehemalige Führungsoffizier Bertrams, offenbarte am 11. 1. im Neuen Deutschland: „Ich habe Herrn Bertram nun mal in die Situation gebracht ... Und er bat mich, den Mund zu halten. Er will erst in der Gauck-Behörde recherchieren, um zu sehen, was da eigentlich vorliegt.“ Die Auseinandersetzung von und mit Lutz Bertram wird also so weit gehen, wie andere ihn mit Fakten und genauen Analogieschlüssen nötigen.

Die Chance in der Debatte um Bertram und Kuttner liegt darin, zu begreifen, daß ein allgemeines Geschwafel überhaupt keinen Sinn macht. Der öffentliche Disput muß erweitert und entprivatisiert werden. Es geht nicht um moralische Urteile, sondern um die Beschreibung der Funktionsmechanismen. Und um die Nachwirkungen auf heute, die sich aus der DDR-spezifischen Mischung von geheimdienstlicher und sektenähnlicher Abhängigkeit ergeben. Die Diskussion muß präziser, provozierender und selbstkritischer werden. Die ehemaligen Bürgerrechtler werden wohl auch die Verteidigung von IMs übernehmen müssen, weil diese sich selbst so verführerisch dämlich erklären.

Diese versachlichte Erinnerungsarbeit braucht nicht nur Zeit und Raum – sie bedarf vollständig geöffneter Akten. Das ist der einzige Weg, jene schriftlichen Hinterlassenschaften des MfS zu einem rein historischen Arbeitsmittel zu machen. Die IM-Kartei sollte als erstes veröffentlicht werden, damit könnte dann die berufliche Routineüberprüfung für die meisten Tätigkeiten entfallen. Denn keine Behörde, sondern die Kollegen können dann Fragen stellen, falls die berufliche Kompetenz berührt sein sollte. Und warum sollte ein Jürgen Kuttner nicht seine Sendung weitermachen? Er darf nur die Debatte nicht behindern können. Lutz Rathenow

Bürgerrechtler und Schriftsteller, lebt in Berlin