Moskau brüllt, der europäische Löwe wimmert

■ In Sachen Tschetschenien versteckt sich die EU am liebsten hinter der OSZE

Brüssel (taz) – Die übliche Appell-Diplomatie läuft auf vollen Touren. Die Europäische Kommission, der Ratsvorsitzende der Europäischen Union, die Außenminister der EU-Troika und eine ganze Reihe von Europaabgeordneten haben an Rußland appelliert, die Kämpfe in Tschetschenien sofort einzustellen und „der Gewalt abzuschwören“, wie es der französische Außenminister Alain Juppé ausdrückte. Aber damit scheint das diplomatische Arsenal weitgehend erschöpft.

Auf dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen mit ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik will die EU gar nicht erst versuchen, eigene Strategien zu entwickeln. Ausdrücklich hat sie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufgefordert, eine Mission ins Kriegsgebiet zu senden und in Verhandlungen mit Moskau nach Lösungen zu suchen. Der derzeitige EU-Ratsvorsitzende, der französische Außenminister Alain Juppé, sagte der OSZE dafür die volle Unterstützung der EU zu.

Die Europäische Union ist deutlich bemüht, die Reaktionen auf den russischen Einmarsch in Tschetschenien auf der symbolischen Ebene zu halten. Auch das kurzfristig gestoppte Wirtschaftsabkommen mit Moskau hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Handel zwischen der Europäischen Union und Rußland. Das Papier war als Teil eines Partnerschaftsabkommens auf dem EU- Gipfel im Juni in Korfu beschlossen worden und muß noch von den Mitgliedsländern unterschrieben werden. Es sieht für die nächsten fünf Jahre den schrittweisen Abbau von Handelsschranken vor. Die Kommission will das Abkommen vorerst nicht weiter vorantreiben – das heißt, nicht vor dem 23. Januar, wenn sich die Außenminister der EU-Länder mit dem Tschetschenien-Konflikt befassen werden. Bisher vermieden die EU- Außenminister alles, was Rußland verärgern könnte. Dahinter steht die Angst, durch deutlichere Worte oder vielleicht sogar Taten das Verhältnis zu Moskau zu beeinträchtigen. Nach Ansicht der EU-Außenminister, soweit sie sich bisher geäußert haben, ist der Tschetschenien-Krieg eine „innere Angelegenheit Rußlands“. Auch wenn sie die Gewaltanwendung einhellig verurteilen – der russische Anspruch auf Tschetschenien wird weitgehend anerkannt. Die territoriale Integrität Rußlands müsse erhalten bleiben, sagte ein Sprecher des in Brüssel für die gemeinsame Außenpolitik zuständigen Kommissars Hans Van den Broek, „allerdings mit anderen Mitteln“.

Der Präsident des Europaparlaments, Klaus Hänsch (SPD), sieht die EU in der schwierigen Position. Einerseits dürfe Europa zur groben Verletzung der Menschenrechte in Tschetschenien nicht schweigen. Andererseits habe die EU ein fundamentales Interesse, daß die Stabilität in Rußland nicht ausgehöhlt wird. „Zwischen diesen beiden Polen“, so Hänsch, „bewegt sich unsere Politik.“ Die Europäische Union stellt sich deshalb voll hinter die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Auf eigene Initiativen verzichtet die EU; die kürzlich als humanitäre Hilfe bewilligten 700.000 Mark wird das Rote Kreuz verwalten.

Wesentlich entschiedener hat der Europarat in Straßburg reagiert, der mit der EU nichts zu tun hat und vorwiegend moralischen Einfluß ausübt. Der Europarat, ein loser Zusammenschluß von 33 demokratischen Staaten zum Schutz der Menschenrechte und zur Förderung des sozialen Fortschritts, will Rußland die für Mitte des Jahres vorgesehene Aufnahme verweigern.

Laut Satzung könnten nur demokratische Länder Mitglied werden, heißt es in der Begründung, „die sich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichten“. Und das sei bei Rußland zur Zeit nicht der Fall. Alois Berger