Die 68er haben sich politisch zur Ruhe gesetzt -betr.: "Das Viertel wird nie Büllerbü", taz vom 13.1.95

Betr.: „Das Viertel wird nie Bullerbü“, taz vom 13.1.

Liebe LehrerInnen, liebe „Ihr im Viertel“, der Dialog mit der Jugend am Mittwoch verlief ähnlich wie die ganze Debatte in der taz: in ignoranter Vermischung sämtlicher Ebenen und der immer gleichen viertelprovinziellen Betroffenheit, die so selten taugt für politische Auseinandersetzungen. – Die eigentlichen Interessenkonflikte wurden kaum angesprochen. Vorweg: Ihr könnt davon ausgehen, daß sich von „autonomer“ Seite nur diejenigen zu äußern trauten, die in der Silvesternacht auf's amtlichste fern der Corner weilten!

Wer dann versuchte zu erklären, wo die Mißstände liegen, und nicht verurteilte, daß Eure Feier in die Hose gegangen ist, gehörte zu den BÖSEN Querulanten und gewissenslosen Scherbenfreaks. Da wird in einen Topf geschmissen, was nicht in einen Topf gehört, und dann noch übermäßig hochgekocht.

Zunächst: Die Äußerung, der Schlachter könne sich ja wohl verteidigen, statt den ganzen Abend wie das Leiden Christi aus der Wäsche zu gucken, war wirklich ein ganz schlechter Witz, diente aber lediglich dem Hinweis, daß vegane Kids, die Drohanrufe tätigen, nicht für voll zu nehmen sind. Solche Anrufe sind einer gewissen „radikalen“ Wichtigtuerei geschuldet und nicht zu verteidigen. VeganerInnen, die im Verzicht auf Tierprodukte die einzige relevante Politik gegen Rechtsruck und soziale Ungleichheit sehen, haben (noch) nicht allzuviel verstanden. Zum Glück ist diese Fraktion sehr klein und tritt eigentlich wenig in Erscheinung. Vielleicht sollet Ihr doch erstmal Aufklärung leisten für diejenigen, die VeganerInnen immer noch für außerirdische Freunde von Mr. Spock halten, bevor Ihr pauschale Hetzkampagnen startet?!

Die Scheiben kleiner einzelHändlerInnen einzuschmeißen, wurde ebenfalls von keiner Seite gerechtfertigt. Wenn diese Existenzen drauf gehen, dient das – klar – nur dem vermehrten Einzug von noch mehr Boutiquen-Ketten in die zukünftige Fußgängerzone ... Trotzdem steht es in keinem Verhältnis, angesichts der sozialen Konflikte im Viertel, ein Spendenkonto für den Schlachter einzurichten, dessen Kundschaft aus gutsituierten Yuppie-Ökos besteht, statt z. B. für eine bessere Junkie-Betreuung zu sammeln.

Hier erkennt man, welche Lobby für welche Interessen eintritt. Früher seid Ihr ins Viertel gezogen, weil's so ein schön wilder Stadtteil war. Jetzt soll er sich gefälligst der kollektiven 68er-Normalbiographie anpassen und umstrukturieren. Prostitution in der Nachbarschaft ist wirklich wenig kindgerecht und gehört verboten. Spritzen im Vorgarten sind ökologisch nicht abbaubar. Baut Euch Euer Ghetto und seht zu, daß niemand die Idylle stört, in die Ihr Euch politisch zur Ruhe gesetzt habt! War schön, daß wir mal drüber geredet haben! „Tante Gervais“