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Sechs Tage Bikerwoodstock

■ Prost Sixdays – brillante Leistungen bis drei Uhr morgens beim Sport und Saufen

Donnerstagabend – Menschenmassen verschwinden hinter den Toren der Stadthalle. Woodstock oder was? Statt Schlafsäcken unterm Arm Schlipse am Hals, viel Pepita bei der Dame und dem Herrn. Daß Bürgermeister Wedemeier Geburtstag hat, setzt ihnen nicht weiter zu. „Hurra, wir leben noch!“ singt Milva, und alle singen mit.

Ihr Startschuß zum 31. Bremer Sechstagerennen geht beinahe unter im Lärm. Kaum, daß die Rennfahrer in die Pedale treten, beginnt ein Sprecher, seine Werbeblöcke abzuarbeiten. „Mütze auf, gut drauf“ heißt der Slogan der „ohrsinnig guten“ Hansawelle – sie wird am heutigen Abend noch etliche Male über uns schwappen. Während oben die ersten Biere schon gestemmt sind, hetzen unten die Fahrer um die Runden. Mein Sitznachbar heißt Raderkopp und kennt sie alle. Er war nämlich mal deutscher Vizemeister auf der Straße. Jetzt haben die Jahre ihre Ringe am Bauch hinterlassen, ach ja. Jetzt muß er im Sitzen aktiv sein und versucht, mich von der Schönheit des Radsports und der Eleganz der 18er- Übersetzung zu überzeugen. „Eine Radumdrehung bringt acht Meter, die kämen ja sonst nicht auf ihre 55 Stundenkilometer.“

Platzwechsel. 30-Minuten-Jagd. Wissen Sie, worum es geht und warum die mal langsam, mal schnell fahren? Nein. Aus dem Lautsprecher erfährt man immerhin, wie man hansawellenmäßig gut draufkommt und daß Baffi und Bincoletto, die italienischen Großmeister, den Sieg für Milva wollen. Schaffen sie aber nicht. In einem packenden Finish nehmen ihnen die australischen Danny Clark und Matthew Gilmore die Zentimeter ab. Clark ist Publikumsliebling, weil er vergangenes Jahr gewonnen hat, obwohl er mit 43 Jahren der älteste Fahrer ist. Mannschaftskumpel Matthew, mit 22 der jüngste Teilnehmer, könnte sein Sohn sein. „Ein tolles Paar“, schwärmen zwei ältere Damen.

Es ist zehn Uhr, für manche schon fünf vor Promille. Mike Krüger betritt die Bühne und singt: „Ich bin kein Trampolin.“ Na, dann gehen wir halt woanders hin. Schließlich ist in den anderen Hallen der Bär los. Kirmes, Karussells und Kommerz. Schlüsselanhänger, Airbrush-Hemden, Holzspielzeug für die vernachlässigten Kinder, Urkunden – Nippes und Kitsch. Die 52jährige Waltraud aus Syke läßt sich qietschbunte Rastazöpfe ins Haar flechten, Gatte Georg ziert ein Cowboyhut. Am Revers der Kegelbrüder flimmern batteriegetriebene rote Herzen. „Ach, Willi, schießt du mir eine Rose?“ Nein, Willi holt lieber noch 'ne Runde. Es wird gesoffen wie vorm Weltuntergang, ole, oleoleole.

Vom Rundenrekordfahren kriegen sie nichts mit. Dabei ist das mordsmäßig spannend. Tiefgebückt hauen die Fahrer wie der Pfiff um die Kurven, sodaß der Sprecher kaum Zeit hat, seinen Wurstwerbeblock durchs Mikro zu drücken. Die Russen verpassen ihren Wechsel, „wechseln auch Sie mal die Wurstsorte zu...“ Das anschließende Dernyrennen verschluckt die Werbestimme gänzlich. Zu laut ist das Gespratzel der Mofas, auf denen übergewichtige Männer sitzen. Reifen an Felge folgen die Radrenner dem Windschatten ihrer Panzerknacker. „Risi, Baffi, Kappes, wer wird gewinnen, jetzt liegt Baffi vorn, Baffi, Risi, Kappes!“ Der Stadionsprecher überschlägt sich und reißt das Publikum mit. Wunderbar, wie Radio dunnemal.

Halle fünf haben derweil Graham Bonney und die Rattles eingeheizt. Ganze Bürobelegschaften biegen sich im „Twist again“, ein 14-köpfiges Minensuchbootgeschader fordert „Much potatoes.“ Beim Rennen waren sie noch gar nicht, das Schwofen interessiert mehr. „Man sieht doch sonst nicht so viele Leute“, bricht es aus dem einsamen Seemann heraus. Die Crew ist, wie die meisten hier, kurz vorm Kentern. Das hat Folgen, wie das T-Shirt für 15 Mark prognostiziert: „Bei ARD und ZDF reihern Sie in der 1. Reihe.“

Der Stand mit dem schlechtesten Umsatz ist zweifellos der mit den Kondomen, Stück 'ne Mark. 20-30 hat der Mann verkauft, „obwohl es sonst in der Stadthalle keine Kondome gibt.“

Während sich immer mehr rote Herzen und Kappen reiben, fahren sich die Sportler die Hintern wund. Es scheint ihre Motivation kaum zu beeinträchtigen, daß das Publikum übersschaubar und mehr mit Trinken beschäftigt ist. Selbst die Logen schunkeln, nur wenige Hardcorefans verfolgen gespannt die Rennen und erfahren, daß erwartungsgemäß das Scheizer Team mit Weltmeister Risi und Betschart haushoher Tagessieger geworden ist.

Um drei Uhr ist alles vorbei. Ehemänner halten sich an Ehefrauen fest, und diese umklammern Berge von Plüschtieren. Hier feiert halt jeder auf seine Art. Eigentlich sind die Sixdays gleichermaßen Vorgänger wie Zukunft des Fernsehens. Man zappt sich durchs Programm, muß nicht, findet aber immer was zum Gucken. Das ist Pepita im ausschweifenden Glück. Dora Hartmann

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