Die leuchtende Kehrseite der Repression

■ In türkischen Buchläden die kritische Literatur – in den Knästen die Autoren

Istanbul (taz) – Nur einen Steinwurf vom großen Tor zu Istanbuls Universität entfernt liegt in einem kleinen Hof der Bücherbereich des Großen Bazars. In der Mitte ein Baum, der im Sommer Schatten spendet, außenherum reiht sich ein Buchlädchen ans andere. Die einen haben große Bildbände und Nachdrucke von alttürkischen Miniaturen ausliegen, um Touristen anzuziehen. In anderen hat man sich auf islamische Literatur spezialisiert. Der Koran in allen Ausgaben und Nachschlagewerke mit Anweisungen für den gläubigen Muslim haben in den vergangenen Jahren immer mehr Platz eingenommen. Schließlich gibt es noch die Buchhandlungen, die politische Werke führen. Ende der siebziger Jahre lagen hier vor allem marxistische Werke aus, revolutionäre Epen. Nach dem Militärputsch 1980 wurden die linken Bücher zurückgezogen, statt dessen kündeten offenkundig literarische Werke von der Idee einer anderen Welt. Da lag dann Erich Fromm aus, oder Bulgakow. In den Jahren darauf wurden manche Werke, die mit der Türkei kritisch umsprangen, nur unter dem Ladentisch verkauft: Der Zensor drohte.

Heute herrscht erstaunliche Vielfalt. Selbst zum Tabuthema Nummer eins, der Kurdenfrage, liegen überall Bücher aus. Manche, etwa mit Interviews des PKK- Chefs Abdullah Öcalan, sind möglicherweise diskret in einem Bücherstapel untergebracht, aber sichtbar sind sie allemal. Die Vielfalt widerspricht nur auf den ersten Blick den Berichten über die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei. Es ist die leuchtende Kehrseite. Die vorgeschaltete Zensur, die die Militärs nach dem Putsch einführten, gibt es nicht mehr. Jede Zeitung, jeder Verleger kann veröffentlichen, was beliebt. Freilich hat er dafür hinterher die Konsequenzen zu tragen, und die werden immer schwerwiegender.

Artikel 8 des Gesetzes zur Terrorbekämpfung bestraft mit zwei bis fünf Jahren schwerer Haft jede Art von Aktion, die darauf abzielt, die Einheit des Landes zu zerstören. Ob „Terrorismuspropaganda“ vorliegt oder nicht, obliegt dem Ermessen der Richter. Und die nutzen ihre Befugnisse zunehmend dafür, etwaige Debatten über das Morden in Kurdistan zu verfolgen. Zur Zeit sitzen mehr als 100 Gewerkschafter, Schriftsteller und Wissenschaftler wegen dieses Paragraphen im Knast. Mehr als 1.500 Urteile warten beim Obersten Gerichtshof auf ihre Bestätigung. Verleger, die unliebsame Bücher herausgegeben haben, werden nicht nur mit hohen Geldstrafen belegt. Seit 1993 werden immer wieder Verlage zur Strafe geschlossen – laut Ercan Kanar, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins (IHD) in Istanbul, eine deutliche Verschärfung. Am gewaltsamsten trifft die Repression Medien, die PKK-nahe Positionen vertreten wie die Tageszeitung Özgür Ülke, deren Mitarbeiter ihre Arbeit häufig mit dem Leben bezahlen. Betroffen sind aber nicht nur radikale Positionen: „Im Zusammenhang mit der Kurdenfrage einen Gedanken zu äußern, etwas zu schreiben, Lösungen vorzuschlagen oder zu diskutieren, ist dem Gesetz zufolge Terrorismus“, sagt Kanar.

Seit vergangenem September führt der IHD zusammen mit der Journalistenvereinigung und einer Reihe bekannter Intellektueller eine Kampagne für die Menschenrechte durch. Demonstrationen in Istanbul und Ankara wurden von der Polizei behindert, und auf einer Pressekonferenz klagte der Schriftsteller Yasar Kemal, ihr Einsatz für die Menschenrechte sei für die türkische Presse weit weniger interessant als eine Bauchtänzerin. Der Protest aus dem Ausland gegen die Verletzungen der Meinungsfreiheit hat auch die türkische Regierung in Bewegung gebracht. Die Verfassungsänderung, die sich abzeichnet, könnte den einsitzenden Intellektuellen aus dem Knast helfen – eine sichtbare Geste. Doch kurz darauf würden die nächsten einfahren – denn am Terrorparagraphen wird nicht gerüttelt. Antje Bauer