Am Ende des Atomzeitalters

Die 30jährige Jagd nach den Quarks und die Wiederentdeckung der Symmetrie  ■ Von Thomas de Padova

„Nur scheinbar hat ein Ding Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und den leeren Raum.“ Die Welt, so lehrten die griechischen Atomisten Leukipp und Demokrit, sei aus kleinsten unteilbaren Urstoffen zusammengesetzt. Es dauerte indessen mehr als 2.000 Jahre, bis ihr materialistisches Weltbild den Siegeszug in den Naturwissenschaften antrat. Allein das Zusammenwirken der elementaren Materiebausteine, das in Leukipps und Demokrits Vorstellung noch geometrischer und mechanischer Natur war, wurde von Isaac Newton (1643–1727) durch das abstraktere Konzept einer Kraft erklärt, die zwischen den einzelnen Korpuskeln wirkt und eine mathematische Beschreibung der Naturereignisse ermöglicht.

Das heute gängige Modell für die Zusammensetzung der Materie wurde vor nunmehr dreißig Jahren von Murray Gell-Mann und George Zweig aufgestellt, das sogenannte Quark-Modell. Laut Quark-Modell sollte es unterhalb der Ebene der Atomkerne noch eine weitere Substruktur der Materie geben, die aus genau sechs verschiedenen elementaren Teilchen, den Quarks, aufgebaut ist. Für die Suche nach diesen Partikeln wurden im Laufe der Jahre immer leistungsfähigere Teilchenbeschleuniger und Detektoren entwickelt. So hatte man im Jahre 1977 bereits das fünfte Quark entdeckt, und nach weiterer siebzehnjähriger Suche gelang es schließlich, das letzte in hochenergetischen Stoßprozessen kurzfristig zu erzeugen.

Für die Atomisten hat sich die Etablierung des Quark-Modells jedoch als wahrer Pyrrhussieg erwiesen. Die Jagd nach den Quarks hat, wie schon zuvor die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie, einmal mehr verdeutlicht, daß wir uns von einer naiven materialistischen Vorstellung elementarer „Teilchen“ ein für allemal trennen müssen. So ist es beispielsweise niemanden gelungen, ein einzelnes, freies Quark zu beobachten. Wissenschaftler aus aller Welt haben jahrzehntelang danach gesucht, in Teilchenbeschleunigern, in Ozeanen und in der kosmischen Strahlung. Doch Quarks, so das überraschende Ergebnis, treten immer nur in größeren Verbänden auf. Sie lassen sich auch mit noch so großer Kraftanstrengung nicht isolieren. Der Unterteilbarkeit der Materie scheint hier eine prinzipielle Grenze gesetzt zu sein.

Dies ist eng mit der Tatsache verknüpft, daß der Raum zwischen den Quarks, im Gegensatz zu Leukipps und Demokrits Vorstellungen, alles andere als „leer“ ist. Das Kraftfeld zwischen den Quarks im Atomkern ist ungefähr so groß wie die Ruheenergie eines einzelnen Quarks. Der Unterschied zwischen Kraftfeld und „Teilchen“ wird dadurch nahezu aufgehoben. Quarks sind nicht die von den Atomisten gesuchten Grundbausteine der Materie, sondern allenfalls benennbare Teile eines wesentlich komplexeren Gesamtzustandes.

Ein Pyrrhussieg ist das Auffinden des letzten Quarks aber auch aus wirtschaftlich-technologischer Sicht. Denn um nach Abschluß des Modells fundamental neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Elementarteilchenphysik zu gewinnen, müßten nach Ansicht der Forscher um einige Größenordnungen höhere Energien erreicht werden. Mit herkömmlichen Mitteln ist dies jedoch selbst unter einem enormen finanziellen Aufwand kaum zu verwirklichen. Der amerikanische Kongreß faßte daher 1993 kurzerhand den Entschluß, den vier Jahre zuvor begonnenen Bau eines neuen Beschleunigers, des Supraleitenden Super-Colliders (SSC), einzustellen. „Ohne den SSC oder einen ähnlichen Beschleuniger droht das Gebiet zu veröden“, klagt Nobelpreisträger Leon M. Lederman vom Illinois Institute of Technology in Chicago. Aber es fällt schwer, die Kosten von rund 20 Milliarden Mark zu rechtfertigen, die allein der Bau eines Beschleunigers dieser Art kosten würde.

Die nun erwartete schöpferische Phase kontemplativer Wissenschaft wird dem Atomismus jedoch schwerlich zu einer zweiten Renaissance verhelfen können. Denn statt kleinste, unteilbare Teilchen ans Tageslicht zu bringen, hat nicht zuletzt das Quark-Modell zur Wiedergeburt einer anderen, ebenso alten Naturbeschreibung geführt. In ihr bilden neben der Materie einige wenige, den Kosmos ordnende Prinzipien den Ursprung unseres Verstehens.

„First principles“ oder „Symmetrieprinzipien“ heißen sie in der Sprache der heutigen Wissenschaftler. Anaxagoras von Klazomenai, der wie Leukipp und Demokrit im fünften vorchristlichen Jahrhundert lebte, vereinte sie in dem Begriff der nous, des „Geistes“. Anaxagoras traf als erster eine Unterscheidung zwischen der Materie und einem Prinzip der Ordnung, um so den Aufbau des Kosmos, des wohlgeordneten Ganzen, zu erklären. In ihm gibt es keinen leeren Raum, wie es auch keine kleinsten unteilbaren Urstoffe gibt, sondern „alles ist in allem“, und alles ist vom „Geist“ durchdrungen.

Die im Quark-Modell erfolgte Klassifikation der Elementarteilchen nach regelmäßigen Schemata ließ diesen ordnenden „Geist immer deutlicher hervortreten. Es zeigte sich, daß den komplizierten physikalischen Gesetzen eine Vielzahl sehr einfacher Symmetrieprinzipien zugrunde liegt. Aus allgemeinen Betrachtungen und Fragestellungen wie etwa, ob die Naturgesetze für eine gegebene Situation und ihr Spiegelbild gleich sind, konnten mit einemmal Kenntnisse gewonnen werden, die vordem in einem abstrakten mathematischen Formalismus auf bedeutend undurchsichtigeren Wegen hergeleitet worden waren. Physikalische Gleichungen wurden dadurch nicht nur transparenter, es gab plötzlich geradezu ästhetische Argumente für ihre Beschaffenheit.

Immer mehr Forscher hat die Vorstellung einer nach symmetrischen Gesichtspunkten geordneten Welt in den letzten Jahren in ihren Bann gezogen, einer ihrer Wortführer ist der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg. Transzendentale Gedanken rütteln an den Grundfesten materialistischer Weltbilder. Anaxagorischer Zeitgeist versus Atomismus. Die Entsorgung atomarer Altlasten ist und bleibt auch in der physikalischen Grundlagenforschung eine Jahrhundertaufgabe.