1995 muß es zur Entscheidung kommen

■ Der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky fordert eine Neuorientierung seiner Partei / Weg vom DDR-Sozialismus und vom Klassenkampf

taz: Die Mitglieder des Politbüros, Krenz, Hager, Schabowski und andere sollen wegen der Todesschüsse an der Grenze vor Gericht gestellt werden. Werden die Richtigen zur Verantwortung gezogen?

Lothar Bisky: Die Mitglieder des Politbüros stehen in einer politisch-moralischen Verantwortung gegenüber den Bürgern der DDR – unstrittig. Das gilt auch für das Grenzregime. Ihrer Verantwortung müssen sich diese Politiker auch stellen.

Auch strafrechtlich?

Strafrechtlich sind sie in dem Maße verantwortlich, wie das DDR-Strafrecht verletzt wurde. Das betrifft nicht nur das Politbüro, sondern jeden Bürger der DDR.

Zur Zeit wird über einen Schlußstrich unter die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts nachgedacht.

Ich halte weder etwas vom Begriff Amnestie, noch halte ich viel von einem Schlußgesetz. Mit Biographien und Geschichte lebt man, und die werden immer wieder befragt werden. Jetzt zu sagen, wir machen mit allem Schluß, und die Geschichte hat sich damit erledigt, das geht für die PDS ohnehin nicht.

In den zehn Thesen ist vom Scheitern des sozialistischen Versuches die Rede. Wie weit hat sich die PDS von diesem Versuch abgenabelt?

Programmatisch lebt er insofern nicht mehr fort, als wir eine eindeutige Absage an stalinistische Methoden, an die Avantgarde-Theorie und den demokratischen Zentralismus formuliert haben. Wir haben den Pluralismus eingeführt und die Basisdemokratie. Das sind Dinge, die sicherstellen sollen, daß in der PDS grundsätzlich nur noch demokratische Lösungen möglich sind.

Für welchen Sozialismus steht die PDS noch?

Lassen Sie mich das in einigen Grundzügen beschreiben. Die Eine-Welt-Konzeption spielt eine Rolle, auch die Überwindung der sozialen Ungerechtigkeit, die Abwehr der ökologischen Katastrophe und die Absage an jedwede Großmachtpolitik. Sozialismus ist für uns verbunden mit Demokratie, Solidarität, Emanzipation des Menschen, Überwindung des Patriarchats und den Menschenrechten.

Das würden so auch viele SPD- Politiker sagen. Sind Sie ein Sozialdemokrat?

Nein, ich bin es nicht.

Sie haben sich als „liberalen Sozialisten“ bezeichnet, was unterscheidet einen solchen von einem Sozialdemokraten?

Da gibt es sicher keine lineare Grenze. Man muß da doch unterscheiden zwischen linken Sozialdemokraten und dem, was die Partei zu ihrem politischen Kurs gemacht hat. Da sehe ich große Differenzen. Ich bin davon überzeugt, daß neben der Sozialdemokratie Platz ist für eine linke, sozialistische Partei. Daran arbeite ich.

Ist denn der Klassenkampf noch eine Kategorie, um die gesellschaftliche Realität in Deutschland zu erklären?

Der Klassenkampf in seiner alten theoretischen Fassung, den akzeptiere ich nicht. Aber es gibt arm und reich, es gibt Differenzen. Eine historische Mission der Arbeiterklasse sehe ich nicht.

In Ihren Thesen fordern Sie einen neuen Gesellschaftsvertrag und damit den Abschied vom Klassenkampf.

Ich halte den Gesellschaftsvertrag für einen machbaren Ansatz.

Was soll der Gegenstand dieses Vertrages sein. Die Rede war von einem New Deal?

Der New Deal ist gar nicht soweit davon entfernt. Es soll ein anderer Konsens in der Gesellschaft erreicht werden, und die PDS kann dazu beitragen. Ist denn jemand bereit, tatsächlich anders zu leben und zu konsumieren, sieht er die Not, außerhalb der Grenzen des eigenen Landes. Es geht ums Teilen, aber auch ums andere Produzieren.

Wer sind die Vertragspartner? Gehört die Unternehmerschaft auch dazu?

Es gibt auch Unternehmer, die vernünftige Menschen sind. Wir werden hoffentlich nicht verdächtigt, mit den großen Konzernherren besonders gut zu stehen, aber ich denke, daß es eine Reihe von Kleinunternehmen und auch Mittelständlern gibt, die durchaus wirtschaftspolitische Vorstellungen haben, von denen die PDS profitieren kann.

Sie plädieren für ein „Bündnis der Reformkräfte“. Das klingt wie ein Angebot an die SPD.

Ich kann mir durchaus Berührungspunkte mit der SPD vorstellen. Auf jeden Fall bin ich an inhaltlichen Diskussionen interessiert, mit linken Sozialdemokraten, aber auch mit den Grünen.

Auch mit linken Christdemokraten?

Das gibt es vereinzelt auch, die haben aber in der Regel mit mir keinen intensiven Kontakt.

Die Thesen nehmen zu der Frage Regierungsbeteiligung nicht dezidiert Stellung. Sie haben aber, bezogen auf die Länder Brandenburg und Berlin, gesagt, Sie wollen das linke Reformbündnis.

Die PDS sollte zu erkennen geben, daß sie an einer rot-grünen Alternative interessiert ist und daß eine solche Alternative an ihr nicht scheitert. Ich habe aber auch immer gesagt, daß wir noch ein paar Jahre Opposition durchlaufen sollten.

Wieviel Jahre Opposition halten Sie denn noch für notwendig?

Drei, vier Jahre.

Weshalb ist es notwendig, daß sich die PDS von der Regierung fernhält?

Zum einen, weil unsere gesamte Konzeption mehr auf Opposition angelegt ist, zum anderen, weil ja auch nicht erkennbar ist, daß andere mit uns wollen. Ich halte es für gut, daß wir die harten Bänke der Opposition noch ein paar Jahre drücken, um Erfahrungen zu sammeln, um kompetenter zu werden.

Wurden Sie dafür gewählt?

Dieses Wahljahr hat uns eine Überraschung gebracht. Die 20 Prozent im Osten werfen für die PDS eine neue Frage auf. Mit 20 Prozent kann man nicht sagen, mit uns ist überhaupt nichts machbar.

Also sind sie eine Regierungspartei im Wartestand?

Wir sind eine Oppositionspartei. Wir definieren uns nicht in erster Linie als Opposition zu anderen Parteien, sondern als konstruktive Opposition gegenüber den herrschenden Verhältnissen. Eine Regierungsbeteiligung für ewig auszuschließen halte ich nicht für richtig. Das macht den Sinn einer Partei überflüssig. Eine Partei, die auf ewig sagt, sie will nur Opposition sein, wird es schwer haben, glaubhaft zu machen, daß sie die Vision einer verbesserten Gesellschaft hat.

Mit welcher Offerte sollen Ihre Berliner Parteifreunde auf SPD und Grüne zugehen, um vier weitere Jahre Große Koalition zu verhindern?

Ich würde das Oppositionelle deutlich machen. Ich würde aber auch die Öffnung erkennbar machen. Es wird an der PDS nicht scheitern, wenn eine alternative Politik für die Stadt Berlin entwickelt wird.

Sie sprechen von einem Reformbündnis, von einem neuen Gesellschaftsvertrag; Ihre Vorstandskollegin Frau Wagenknecht besteht darauf, daß die PDS eine eindeutig antikapitalistische Partei bleibt. Sie sagen, ein Zurück zu den Strukturen der DDR gebe es auf keinen Fall, für die Kommunistische Plattform ist das, was 1989 passiert ist, eine Konterrevolution. Wie paßt das noch zusammen?

Da haben Sie ja wieder meine Lieblingsfrage.

Die wollten wir Ihnen nicht vorenthalten.

Frau Wagenknecht sieht uns auf dem Weg nach Godesberg. Das ist Unsinn. Die Kommunistische Plattform ist nicht mit einzelnen ihrer Mitglieder zu verwechseln. Die Mehrheit der Plattform ist mit den grundsätzlichen Positionen der PDS einverstanden. Dann gibt es auch welche, die sagen, man muß das Ganze antikapitalistisch deuten. Die Frage ist für mich nur, was versteht man darunter. Wenn man darunter ein Zurück zu den Strukturen des realen Sozialismus versteht, dann sage ich dazu nein, das sollte es nie wieder geben.

Wie groß ist denn der Kreis der DDR-Nostalgiker in der PDS?

Wenn ich tausend sage, ist das hoch gegriffen.

Die Thesen zur DDR-Vergangenheit haben nicht nur den Zorn von Sarah Wagenknecht, sondern auch den Unmut einer ganzen Reihe Ihrer Genossen hervorgerufen.

Man muß immer unterscheiden zwischen Theorie und Psychologie. Theoretisch ist es völlig korrekt zu sagen, der Bruch ist vollzogen. Daß es manchem Schmerzen bereitet, derartig harte Schlußfolgerungen zu lesen, verstehe ich. Nichtsdestotrotz muß man deutlich machen, daß es so etwas mit der PDS nie wieder geben kann.

Dann sollte man diese Erkenntnis auch in der Partei durchsetzen.

Die Mehrheiten in der PDS sind immer sehr groß gewesen, wenn es darum ging, sich für eine vernünftige linke Politik zu entscheiden. Und das ist der Optimismus, den ich habe.

Auf dem Parteitag wird ein neuer Vorstand gewählt. An welchen personellen Veränderungen wird der Bruch erkennbar sein?

Ich halte nichts von Bruchtheorien.

Sie haben doch selbst die Handlungsunfähigkeit des Vorstandes beklagt.

Im zurückliegenden Superwahljahr haben uns die Kräfte teilweise verlassen. Für mich ist nur noch psychologisch erklärbar, daß bereits einen Tag nach der Bundestagswahl eine Unruhe in der Partei einsetzte. Das hängt damit zusammen, daß man eine Reihe von Dingen während des Wahlkampfes nicht diskutiert hat. Es geht auch um programmatische Differenzen. Die können nicht auf Dauer bleiben sondern müssen ausgetragen werden.

Der programmatische Wandel ist mit dem bestehenden Vorstand nicht machbar?

Ich wünsche mir einen politisch ausgerichteten und handlungsfähigeren Vorstand. Es kommen jetzt fünf harte Jahre auf uns zu, in denen entscheidet sich das Schicksal der PDS. Da brauchen wir einen anderen Arbeitsstil. Wir müssen mehr analysieren, dann erst debattieren und konkrete Handlungsempfehlungen geben. Gegenwärtig ist die Debatte überentwickelt, manchmal ohne jegliche Analyse. Zudem schreitet die Regionalisierung der PDS voran. Auch deshalb brauchen wir einen handlungsfähigen Vorstand.

Gibt es eine Mehrheit in der PDS für Ihren Reformansatz?

Wir haben eine relative Stabilität, und die Zusammensetzung der Vorstände ist nicht überall das Spiegelbild der Partei. Meine Erfahrung ist, daß wir eine konsensfähige Mehrheit haben, die auch politische Neuerungen trägt. Die PDS ist handlungsfähig.

In den alten Bundesländern ist sie nicht allzu handlungsfähig.

Das stimmt. Das sehe ich mit Grausen.

Wie lautet Ihre Analyse?

Soweit ich weiß, kommen dort mittlerweile eine Reihe jüngerer Leute dazu...

...auf insgesamt sehr niedrigem Niveau...

...das stimmt. Es sind bescheidene 600. Es wird jetzt debattiert, wo die PDS zu stärken ist.

Wird auch debattiert, die PDS auf die fünf neuen Länder zu beschränken?

Das wird auch diskutiert. Es gibt die Auffassung, die PDS ist eine Ostpartei, und dazu solle sie stehen. Im Westen wird sie nicht angenommen, also machen wir aus der Not eine Tugend. Ich hänge einer solchen Vorstellung nicht an, weil ich fürchte, daß eine Regionalisierung auch das Denken regionalisiert. Wir haben Chancen, wenn auch auf einem mühsamen und langen Weg.

So haben Sie bereits vor vier Jahren geredet.

Es gibt aber auch ganz neue Zeichen. Schauen Sie sich PDS-Veranstaltungen an, da kommen Hunderte Leute, nicht nur bei Gysi...

...und wählen dann Grüne oder SPD.

Sie wählen uns leider nicht stark genug, das ist richtig. Und das ist unser Problem, denn wir müssen an 1998 denken. Dann steht erneut die Fünfprozenthürde vor uns.

Wächst in der Partei nicht der Überdruß, Geld, das eh knapp ist, ohne Aussicht auf Erfolg in die westlichen Landesverbände zu pumpen?

Ja, die Stimmen werden lauter.

Wird der Parteitag Ende Januar der PDS bereits ihre Godesberger Wende bescheren?

Von Godesberg unterscheidet uns eine ganze Menge. Die PDS ist eine solch eigentümliche Partei, daß sie auch eigentümliche Wege gehen muß. Und die sind mit denen der anderen Parteien der Bundesrepublik nicht identisch.

Wann werden Sie die mit den zehn Thesen angepeilte Erneuerung abgeschlossen haben?

1995 muß es zur Entscheidung kommen. Keine Partei kann damit leben, daß wichtige Fragen unentschieden blieben.

Interview:

Dieter Rulff und Christoph Seils