■ Zur „römischen Plattform“ der algerischen Opposition
: Kein Kompromiß in Prinzipienfragen!

Hocine Ait Ahmed ist Chef der sozialdemokratisch orientierten FFS, die vor allem in der von Berbern bewohnten Kabylei eine starke Basis hat und bei den Wahlen vom Dezember 1991 nach der Islamischen Heilsfront (FIS) an zweiter Stelle lag. Am Freitag unterzeichneten sieben Oppositionsparteien, unter ihnen die FFS, die FIS und die FLN, in Rom eine „Plattform für eine politische und friedliche Lösung der algerischen Krise“, in der das Militärregime zum Dialog aufgefordert wird. Ait Ahmed gehört zu den Gründern der FLN, die 1954 den Befreiungskampf gegen die französische Kolonialmacht aufnahm. Er wurde vom neuen Regime zum Tod verurteilt, entwich 1966 aus dem Gefängnis und ging ins Exil, aus dem er erst 1989 wieder zurückkehrte. 1992 flüchtete er erneut ins Exil.

taz: In der „Plattform“ ist viel von der Repression der Armee und auch von einem Appell zur Einstellung der Attentate die Rede. Doch der islamistische Terror wird nicht beim Namen genannt. Eine Konzession an die FIS?

Hocine Ait Ahmed: Wir haben da keine Konzessionen gemacht. Uns geht es darum, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Wir haben darauf bestanden, daß die FIS sich sofort verpflichtet, von Attentaten auf Zivilpersonen, auf Ausländer abzusehen. Wir haben darauf bestanden, daß die FIS nicht nur zum Waffenstillstand aufruft, sondern auch in die Berge geht, um die Gewalttätigkeiten zu stoppen. Gleichzeitig müssen die Machthaber Maßnahmen der Entspannung erlassen, politische Handlungsspielräume eröffnen und die politischen Gefangenen freilassen. Die FFS hat eine islamische Republik immer abgelehnt und darauf bestanden, daß die Ablehnung jeder Diktatur welcher Art auch immer in das Dokument aufgenommen wird. Das ist geschehen. Natürlich ist die Plattform ein Kompromiß, und da macht man Konzessionen. Was aber unsere Prinzipien betrifft, haben wir keinen Kompromiß gemacht. Die Ablehnung der Gewalt, die Respektierung der Menschenrechte, die bürgerlichen Freiheitsrechte: all das steht in der Plattform.

Glauben Sie denn, daß die FIS tatsächlich auf die Gewalt verzichten wird?

Sie haben unterschrieben. Jetzt muß man sie beim Wort nehmen. Die FIS hat ein Interesse an einem Gewaltverzicht, weil sie von bewaffneten Gruppen eingeholt wird, die sie nicht kontrolliert. Man darf nicht vergessen, daß [vor dem Staatsstreich im Januar 1992; d. R.] gerade die FIS auf Wahlen bestanden hat und sich jenen entgegengestellt hat, die keine Wahlen wollten und alles ablehnten, was an den Westen erinnert. Selbst die Menschenrechte galten ja als Erfindung des Teufels und des Westens.

Einerseits sagen Sie, die FIS müsse nun die bewaffneten Gruppen dazu bringen, die Gewalttätigkeiten einzustellen, andererseits sagen Sie, die FIS kontrolliere diese Gruppen gar nicht...

Die Unterbrechung des Wahlprozesses [der zweite Wahlgang wurde im Januar 1992 schlicht abgesagt, weil offensichtlich war, daß die FIS den Sieg davongetragen hätte; d. R.] hat die vielen verschiedenen islamischen Strömungen zur Gewalt gedrängt. Dann kamen Haß, Rachegefühle, eine Eskalation des Horrors, wie wir sie aus dem Befreiungskrieg kennen. Die alten Führer der FIS haben weiterhin großen Einfluß auf die bewaffneten Gruppen. Wenn sie nun öffentlich zur Niederlegung der Waffen aufrufen können, glauben wir, daß das Niveau der Gewalt beträchtlich zurückgehen wird. Natürlich wird ein Rest von Terrorismus bleiben.

Wird mit der Plattform von Rom nicht jene Bewegung einer „dritten Kraft“ geschwächt, die sich gegen die Repression der Armee und den Terror der Islamisten gleichermaßen wehrt?

Die demokratischen Ziele können nur erreicht werden, wenn der Krieg gestoppt wird und sich die Lage beruhigt. Man muß dem Großteil der algerischen Bevölkerung, der weder zur Armee noch zu den bewaffneten Gruppen neigt, die Möglichkeit geben, eine wirklich demokratische Partei aufzubauen, die eine Garantie für einen demokratischen Prozeß sein kann. Wir sind kein Bündnis eingegangen. Wir wollen die FIS dazu bringen, die bürgerlichen Rechte und Freiheiten anzuerkennen. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die FIS gewählt hat.

Bestand und besteht nicht die Gefahr, daß die FIS über Wahlen auf demokratischem Weg eine Diktatur errichtet ...?

In der Tat war es das Ziel der FIS, auf demokratischem Weg an die Macht zu kommen, um die Demokratie zu töten. Aber wir hatten die Chance, die FIS ins verfassungsmäßige Spiel einzubinden und sie dazu zu bringen, sich von ihren Hardlinern zu trennen. Kurz vor dem vorgesehenen zweiten Wahlgang kam General Nezzar [damals Verteidigungsminister; d.R.] zu mir. Ich sagte: „Herr General, ich habe zu einer Demonstration für die Demokratie aufgerufen. Lassen Sie sie bitte zu. Sie werden sehen, es wird ein Erfolg werden. Greifen Sie nicht jetzt ein, sondern dann, wenn die FIS die Verfassung verletzt.“

Aber die Armee setzte auf die Gewalt, weil sie Gewalt als das einzige Mittel sah, die Situation wieder unter Kontrolle zu kriegen. Sie glaubte, innerhalb von drei Monaten die FIS ausschalten und den Frieden wiederherstellen zu können, weil die politische Polizei die FIS infiltriert hatte. Aber sie hat die große Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht wahrgenommen und auch nicht ihre Abneigung gegen die Machthaber.

Sie dachten also, schlimmstenfalls könne die Armee immer noch eingreifen. Bestand dann nicht die Gefahr, daß sich in der Armee ähnlich wie im Iran 1978/79 ein rapider Auflösungsprozeß abspielen und sie den Islamisten anheimfallen könnte?

Zumindest damals bestand die Gefahr einer schnellen Erosion der Armee nicht. Die Islamisten hatten die Armee ja noch nicht infiltriert. In Algerien drohte der Totalitarismus aus einer Vereinigung zweier Elemente zu kommen. Auf der einen Seite das Lumpenproletariat, das das Ergebnis sozialer Ungerechtigkeit ist und immer auf einen Messias wartet. Auf der andern Seite gibt es die regressiven Kräfte der Ultras der Armee. Wenn die beiden sich zusammentun, kommt ein militärisch-fundamentalistischer Totalitarismus heraus. Das Fundament für diese eigentliche Gefahr hatte die alte FLN selbst durch ihr Zurückweichen vor dem Islamismus gelegt.

Heute gibt es zwei gefährliche Szenarien. Erstens die Fortsetzung des Krieges und damit die Auflösung des Staates, zweitens ein militärisch-fundamentalistisches Bündnis. Aufgrund dieser Gefahren haben wir nun diese Plattform geschmiedet, um den Dialog zu fordern. Jetzt ist die Armee an der Reihe. Interview: Thomas Schmid