Schlachtviehtransporte haben in Großbritannien eine neue Tierschutzbewegung ausgelöst. Von Ralf Sotscheck

Aufruhr am Kälberkai

Sieht so eine gedungene Krawallmacherin aus? Beryl Ferrers-Guy ist etwa 60, ihre weißen Haare sind mit einem Kamm ordentlich am Kopf zusammengesteckt. Gegen die Kälte hat sie sich mit warmen Stiefeln und einem wattierten Anorak geschützt. Die Steuerberaterin aus dem kleinen südenglischen Shoreham steht seit zwei Wochen jeden Abend am Hafen und protestiert, wie Hunderte anderer Männer und Frauen von Shoreham, gegen die Verschiffung von Mastkälbern nach Frankreich und den Niederlanden.

„Ich saß früher für die Torys im Bezirksrat“, erzählt sie, „und hätte nicht im Traum daran gedacht, auf eine Demonstration zu gehen.“ Dann aber habe sie einen Film der Tierschutzorganisation „Compassion in World Farming“ (CIWF) gesehen, der den Weg eines englischen Kalbes von der Geburt bis zum Tod nachzeichnet. Das war zuviel. „Ich bin keine Vegetarierin, doch als ich die großen, braunen Augen sah und die Kälber nach der Mutter schreien hörte, kamen mir die Tränen“, sagt Ferrers-Guy. „Ich kann seitdem kaum noch schlafen und brauche jeden Abend einen doppelten Scotch, obwohl ich eigentlich Abstinenzlerin bin.“

Der CIWF-Film hat viele auf das Thema aufmerksam gemacht. Als die Transporte dann begannen, mußte niemand die Proteste organisieren – die Nachricht sprach sich herum wie ein Lauffeuer. Die ersten Lastwagen mit Kälbern und Schafen trafen am 16. Januar in Shoreham ein. „Ich hatte erwartet, alle möglichen merkwürdigen Gestalten bei der Demonstration vorzufinden“, sagt Ferrers-Guy. „Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß es Leute wie ich waren. Das ist eine Revolution der Mittelklasse.“

Die ersten beiden Transporte konnte man noch mit Sitzblockaden verhindern. Am Dienstag, dem zweiten Tag, kletterte dann ein vermummter junger Mann auf einen der Lastwagen und warf die Scheibe mit einem Ziegelstein ein. „Wir haben unsere Mitglieder daraufhin für einige Tage von den Demonstrationen zurückgezogen, weil wir mit Gewalt nichts zu tun haben wollen“, sagt John Callaghan, einer der Direktoren von CIWF.

Doch nicht alle, die hier am Hafen stehen, sind seiner Meinung. „Der Junge ist ein Held“, sagt John Rice, ein Endvierziger mit langen Koteletten und einer braunen Wildlederjacke, die mit einem weißen Kunstpelz gefüttert ist. „Er hat den LKW-Fahrer gewarnt, bevor er die Scheibe einwarf. Durch diese Aktion ist die Presse auf uns aufmerksam geworden, über unseren friedlichen Protest hat vorher niemand berichtet. Das war der Wendepunkt.“

In den Medien war allerdings von „Demonstrationsprofis und Mietpöbel“ die Rede. Die lokalen Polizeieinheiten wurden durch tausend Beamte aus London verstärkt. „Die einheimischen Polizisten sind okay“, sagt Wenda Shehata aus Brighton, „es sind die anderen, die mit unbeschreiblicher Brutalität vorgehen. Sie knüppeln den Transporten den Weg frei.“

Die Küste der Grafschaft Sussex ist fest in der Hand der Torys, so weit sich die Menschen zurückerinnern können. Kaum jemand unter den Demonstrierenden hatte jemals etwas mit der Polizei zu tun, die meisten sind entsetzt über das rücksichtslose Vorgehen der Beamten. Ferrers-Guy vergleicht sie sogar mit „Sturmtrupps“.

Bisher hat der Einsatz umgerechnet mehr als zweieinhalb Millionen Mark gekostet. Bezahlen muß die Bezirksverwaltung in Sussex, weil der Hafen offiziell ein Privatbesitz ist, den die Verwaltung schützen muß. Er wurde im Jahr 1700 durch königlichen Erlaß einer Stiftung übergeben und soll dem Gemeinwohl dienen. Die meisten vermuten jedoch, daß sich der Hafenverwalter Philip Lacey an dem Kalbshandel eine goldene Nase verdient.

„Er steckt mit dem Bauernverband unter einer Decke und hat seine Finger auch im Transportgeschäft“, glaubt eine junge Frau, die ungenannt bleiben will. „Lacey“, ist ihr aufgefallen, „ist immer schnell mit juristischen Schritten bei der Hand.“ Er sei der verhaßteste Mann am Ort und werde in der Gaststätte am Hafen nicht mehr bedient. „Aber ihm scheint das nichts auszumachen“, sagt Wenda Shehata, „im Gegenteil: Beim ersten Tiertransport stand der am Hafenbecken und öffnete persönlich die Schleuse.“

Lacey beruft sich auf ein Gesetz von 1874, das ihn angeblich dazu verpflichte, den Hafen auch für diese Transporte zur Verfügung zu stellen. „Das stimmt aber nicht“, schimpft Ferrers-Guy. „Ein Gesetz von 1964 stellt ihm die Entscheidung frei. In anderen Fällen hat er dieses Gesetz schon oft angewendet.“

Zwei alte Frauen sind auf das Gesetz gestoßen, als sie tagelang juristische Fachbücher in der Bibliothek wälzten. „Alle helfen mit“, sagt Ferrers-Guy, „mein 80jähriger Nachbar beobachtete den Hafen die ganze Nacht mit seinem Fernglas, um uns zu alarmieren, sobald der erste Tierfrachter einlief.“ Und Wenda Shehata erzählt, wie das Thema die ganze Grafschaft zusammenschweißt: „Die Menschen kommen nach der Arbeit zum Hafen und protestieren, notfalls bleiben sie bis vier Uhr morgens in der Kälte stehen. Die Atmosphäre ist unglaublich: Menschen, die sich 20 Jahre lang nicht gesehen haben, treffen sich hier bei der Demonstration wieder. Neulich kam ein Ehepaar in Abendgarderobe vorgefahren und brachte zwei Kästen Bier. Sie entschuldigten sich, daß sie nicht bleiben könnten, weil sie zu einem Empfang müßten.“

Auch die Wissenschaft steht vor einem Phänomen. Robin Grove- White von der Universität Lancaster hat eine „wachsende Vielfalt sozialer Netzwerke“ ausgemacht, die sich „anhand von Themen wie Gesundheit, Nahrung, Tiere und Freizeit entwickeln“. Er weist auf die „mächtigen sozialen Veränderungen“ hin, die von der Regierung weitgehend ignoriert werden.

Umfragen zeigen, daß es inzwischen 2,5 Millionen VegetarierInnen in Großbritannien gibt; 40 Prozent der Bevölkerung haben ihren Fleischverbrauch zumindest eingeschränkt. Steve Connor von der gemäßigten „Vegetarischen Gesellschaft“ sagt: „Ich kenne viele politisch aktive Menschen, die sich Tierschutzthemen zugewandt haben. Aufgrund des Rechtsrucks der Labour Party haben sie ihre politische Heimat verloren.“

Auch der Wissenschaftler Geoffrey Mulgan erkennt eine Abkehr von „viktorianischen Tierschutzgruppen“ zugunsten radikalerer Organisationen. „Die grüne Bewegung legt sich eine post-humanistische Tagesordnung zu“, sagt er. Die Tierschutzbewegung ist aber kein homogenes Bündnis, sondern besteht aus einem breiten Spektrum, das von den militanten Tierbefreiern der Animal Liberation Front (ALF) über radikale Vegetarier bis hin zu eher sentimentalen, konservativen Tierfreunden wie hier in Shoreham reicht.

Der Protest ist deswegen nicht weniger heftig. Als die zehn doppelstöckigen Lastwagen auf den „Northern Cruiser“, einen kleinen kanadischen Frachter, verladen werden, kommt Bewegung in die rund 300 DemonstrantInnen an der Hafenmauer von Shoreham. Ein etwa 18jähriger in einer blauen Windjacke und braunen Cordhosen ruft – wohl zum ersten Mal in seinem Leben – Parolen durch ein Megaphon in Richtung Schiffsbesatzung: „Habt ihr ein schlechtes Gewissen? Erzählt ihr euern Frauen und Kindern davon? Schämt euch!“

Dann gibt er seinem zehnjährigen Bruder das Megaphon. „Laßt die Kälbchen frei“, schreit der, „ihr dürft sie nicht in Kisten stecken!“

Sie meinen, sogar zu müssen. Landwirtschaftsminister William Waldegrave behauptet, nach europäischem Recht könne die britische Regierung den Export der Kälber nicht untersagen. Peinlich nur für den Minister, daß er in die Schlagzeilen geriet, weil auch Kälber aus seiner eigenen Farm nach Frankreich und in die Niederlande zur Mast exportiert werden.

Und seine Frau Caroline Waldegrave hat ein Kochbuch mit den leckersten Kalbfleischrezepten verfaßt. Sie empfiehlt holländisches Fleisch – weil es „blaß und zart“ ist. Das Eigeninteresse ist zu durchsichtig. „Wenn wir unsere berühmte Tierliebe unter Beweis stellen wollen“, rät die Journalistin Emily Green ihren LeserInnen, „müssen wir wohl mehr Kalbsschnitzel essen.“ Ihr Kollege Matthew Fort vom Guardian meint dagegen ironisch, diese Art von „Gaumenpädophilie“ liege den BritInnen wohl fern. Er hat recht. Kalbfleisch wird hier kaum gegessen. Auch der Export der Kälber ging jahrelang fast unbemerkt vonstatten. Die Tiere wurden auf die Passagierfähren in den großen Industriehäfen wie Dover, Folkestone oder Ramsgate verladen und nach Dieppe, Calais oder Hoek van Holland gebracht. Die seltenen Beschwerden der Passagiere über den Gestank oder die Schreie konnte man getrost ignorieren: Wer mit dem Auto auf das Festland wollte, hatte keine Alternative.

Nun aber hat der Tunnel unter dem Ärmelkanal die Situation verändert. Durch den „Chunnel“ dürfen keine Tiere transportiert werden, und die CIWF drohte den Reedereien mit einer Boykottkampagne. Denen war das Risiko zu groß. Schließlich werden allein in Dover täglich 1.200 Lastwagen verschifft, aber nur drei oder vier pro Woche haben lebende Tiere geladen. Und den zollfreien Schnaps – ein Riesengeschäft für die Reedereien – kaufen die Kälber auch nicht.

So lassen die Fähren seit dem vergangenen Jahr keine Kälber und Schafe mehr an Bord. Seitdem wird der Handel mit den Kälbern über die kleinen Häfen und Flughäfen abgewickelt – neben Shoreham auch die Häfen in Grimsby, Plymouth und Kings Lynn sowie die Flughäfen in Coventry, Swansea und Belfast.

Den Bauern bringt der Handel mit den unerwünschten Bullenkälbern rund 200 Millionen Pfund im Jahr ein, und die Torys wagen es nicht, sich dem Willen des einflußreichen Bauernverbandes zu widersetzen. „Man kann doch einen legalen Handel nicht aus emotionalen Gründen unterbinden“, sagt David Naish, der Präsident des Bauernverbandes.

Vielleicht aber doch. In Shoreham ist man jedenfalls optimistisch und auch etwas stolz: „Unser kleines Shoreham steht an der Spitze der Bewegung“, sagt der Mann in der Wildlederjacke, „und wir werden jeden Tag hier zum Hafen kommen und protestieren, bis der Export lebender Tiere verboten ist.“

Als der „Northern Cruiser“ mit den Kälbern und Schafen an Bord schließlich durch die Schleuse fährt, setzt ein Pfeifkonzert am Pier ein. Kaum ist der Frachter außer Sichtweite, zerstreut sich die Menge. Bis zum nächsten Mal. „Shoreham war immer eine Hochburg der Torys“, sagt Beryl Ferrers-Guy, „aber jetzt haben sie hier verspielt. Ich war mein Leben lang konservativ, aber die Konservativen bekommen von mir keine Stimme mehr.“