In der Bosna stehen wieder Forellen

Rauch und Ruß der Hochöfen prägten einst die zentralbosnische Stadt Zenica / Jetzt stehen die Anlagen still / Nach dem Krieg sollen nur die moderneren Industrieanlagen weitergeführt werden  ■ Aus Zenica Erich Rathfelder

Ein bißchen Stolz schwingt in seiner Geste mit, als er auf das riesige Industrieareal unter uns deutet, auf die Hochöfen, das Gewirr von Heizungs- und Versorgungsrohren, auf die Fabrikhallen und die Eisenbahnschienen. Aziz Mujezinović ist Produktionsleiter des Stahlwerks, des „Rudarsko Metalurski Kombinats“ von Zenica. Der knapp 50jährige Manager gehört zu den Spezialisten, die trotz des Kriegs weiter an die Zukunft des Werks glauben, in dem sie beruflich groß geworden sind.

Das Areal des Stahlwerks, das von dem nahe gelegenen Hügel aus, auf dem wir stehen, gar nicht zu überblicken ist, umfaßt eine Fläche von fünf Quadratkilometern. Damit ist es das größte Stahlwerk im ehemaligen Jugoslawien. In den vier Hochöfen, die dort hinten schemenhaft im Nebel des kalten Wintertages zu sehen sind, wurden vor dem Krieg 2 Millionen Tonnen Stahl und Eisen produziert. Der Begleiter weist auf die Kokerei und das werkseigene Kraftwerk hin. Das Kombinat beschäftigte allein in Zenica 20.000 Arbeiter. „In den metallverarbeitenden Betrieben, die zum Kombinat gehörten, und das waren immerhin 25 Fabriken in Kroatien, in Serbien, dem Kosovo und Bosnien, haben wir weitere 30.000 Arbeiter und Angestellte beschäftigt. Und damit soll es jetzt zu Ende sein?“ Aziz Mujezinović gibt die Antwort auf seine Frage gleich selbst. „Nein, niemals, wir planen schon für die Zukunft nach dem Krieg.“

Mit einladender Geste bietet er eine Rundfahrt durch das Gelände an. Der grauhaarige Fahrer des Werkwagens hatte in den siebziger Jahren in einem Metallbetrieb in Mannheim gearbeitet, ist dann aber wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Im Kombinat, das damals expandierte, fand er leicht einen Job. „Ich weiß noch aus meiner Kindheit, wie klein Zenica damals gewesen ist, hier lebten doch nach dem Zweiten Weltkrieg nur knapp 10.000 Einwohner. Jetzt haben wir über 120.000, die Flüchtlinge gar nicht mitgerechnet“, sagt er und deutet auf die Hochhäuser am Horizont, die hinter den Industrieanlagen zu erkennen sind. „Es war das Werk, das die Stadt wachsen ließ. Über 10.000 Wohnungen hat das Kombinat in Zenica gebaut. Das Kombinat ist Zenica und Zenica das Kombinat.“

Der VW-Golf setzt sich in Bewegung. „Auch das Volkswagenwerk bei Sarajevo, in Vigosca, das jetzt von den Angreifern besetzt ist, hat von uns Bleche und Stahl bezogen. Dort ist das Walzwerk, wo auch für Volkswagen gearbeitet wurde.“ Aziz Mujezinović deutet auf eine große Halle. „Die wurde während der Bombenangriffe am 29. September 1992 beschädigt.“ In Wellen seien die Flugzeuge gekommen, erläutert er. „Manche der Hallen gingen in Flammen auf, doch wir bekamen die Feuer unter Kontrolle.“ Als drei Tage später das Kombinat erneut bombardiert wurde, sei eine Vielzahl empfindlicher Stellen getroffen worden. Immer noch ist ihm die Erregung anzumerken, daß es ausgerechnet die jugoslawische Luftwaffe war, die „sein“ Werk angegriffen hat. „Es war doch unsere gemeinsame jugoslawische Armee.“

An einer der Wände sind noch Aufrufe zum 1. Mai zu erkennen. Und auch ein Portrait des ehemaligen Staatslenkers von Jugoslawien, des inzwischen legendären Josip Tito, hat die Bombenangriffe überstanden. Das Kombinat oder RMK, wie es kurz genannt wird, war eine Schöpfung des kommunistischen Staates – und doch nicht ganz. Denn das Werk wurde 1892 im damaligen Habsburgerreich gegründet. Es hat also eine lange Tradition. „Die Bombenangriffe wurden kurz vor den Feierlichkeiten zum 100. Gründungstag des Werks geflogen“, sagt Mujezinović.

Wir biegen um eine Ecke und nähern uns dem Zentrum des Industriekomplexes. Der kleinste der vier Hochöfen, so wird erläutert, sei auch der älteste. Und in der Tat verbreiten die rotbraunen Backsteinziegel der ihn umgebenden Fabrikhallen den rostigen Charme älterer Industrieanlagen. „Dieser Hochofen wird niemals wieder arbeiten“, sagt der Produktionsleiter, „aber bis vor kurzem produzierte er immerhin 300.000 Tonnen Eisen jährlich.“ Mit einem Blick auf die beiden nächsten, schon größeren Hochöfen, wird die rasante Entwicklung des Werkes in den fünziger Jahren deutlich. „Da haben wir schon zusammengenommen eine Million Tonnen produziert. Wir werden diese beiden Hochöfen in Zukunft ebenfalls demontieren.“ Denn nur der modernste Teil soll überleben. In den siebziger Jahren wurde dieser mächtige Hochofen gebaut. An den umliegenden Hallen sind keine Spuren der Bombenangriffe mehr zu entdecken. „Wir könnten, hätten wir die Rohstoffe und die Infrastruktur, sofort wieder anfangen zu produzieren.“

Daß der Krieg von serbischer Seite schon lange geplant worden war, zeige sich darin, wie „der Gegner vorgegangen ist“. Zunächst sei die Infrastruktur für das Werk zerschlagen worden, und „zwar systematisch“, die Eisenbahnlinien nach Sarajevo und hin zur Küste seien unterbrochen, das große Kraftwerk in Kakanj sei angegriffen, die Erzminen wie die in Omarska seien lahmgelegt worden. „Ja, in unserer Erzaufbereitungsanlage in Omarska wurde eines der brutalsten Konzentrationslager eingerichtet. Die ersten Gefangenen dort waren dreitausend unserer Arbeiter.“

Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung. Unter riesigen Kränen geht es vorbei an den Verladeanlagen für die Eisenbahn. Plötzlich kommen Lastwagen entgegen, Gabelstapler bringen Eisenträger in eine Halle, rauchende Arbeiter stehen in kleinen Gruppen vor den Eingangstoren. „Hier wird in der Tat gearbeitet, wir haben einen Teil der Produktion wiederaufgenommen.“

Auf die Frage, was hier produziert wird, lächeln die Begleiter nur. Auf den Hinweis, in der Stadt werde gemunkelt, im Stahlwerk sei man für die Rüstung aktiv, reagieren sie nicht. „Noch 14.000 Arbeiter sind im Werke angestellt, ein Teil der Leute ist bei der Armee, ein Teil beim Zivilschutz, ein Teil wird hier beschäftigt, und der Rest arbeitet für die Zukunftsplanung.“ Löhne könnten nicht mehr bezahlt werden, aber aus den Rücklagen im Ausland „werden Lebensmittel herangeschafft“.

Zurück im Verwaltungsgebäude, muß sich der Produktionsleiter verabschieden. Er ist im „Zweitberuf“ noch Professor an der Hochschule für Metallurgie. Einer seiner Studenten wartet schon, um für das Examen geprüft zu werden. Direkt von der Front sei er gekommen, aber er habe sich dort in freien Stunden auf die Prüfung vorbereitet.

Auf einer Landkarte im Büro sind die alten Geschäftsverbindungen des Kombinats eingezeichnet. China, viele Länder Afrikas und Lateinamerikas, der Maghreb, der Nahe Osten, die DDR und die Bundesrepublik wie auch die Sowjetunion gehörten zu den Kunden. „Wir haben früher 400 bis 500 Millionen Dollar jährlich im Exportgeschäft in 80 Ländern umgesetzt.“

Das Kombinat ist Zenica und Zenica das Kombinat. Auf der Fahrt zurück ins Stadtzentrum wird dies deutlich. Nach den Wohnblocks des Kombinats, die sich wie ein Ring um die Altstadt legen, folgen entlang der Uferstraße des Flusses Bosna die modernen Repräsentationsbauten des Kombinats. So ist das „höchste Gebäude des Balkan“ ein Verwaltungsgebäude des Industriekomplexes. Die mit braunem Glas eingefaßte schwungvolle Fassade eines anderen, ultramodernen Verwaltungsgebäudes wetteifert mit den geraden Linien eines großen Hotels. Das Theater, in dem auch heute, während des Krieges, gespielt wird, die Universität mit ihren Forschungseinrichtungen und das Fußballstadion, in dem vor dem Krieg die viertbeste Mannschaft Jugoslawiens kickte, fast all diese Institutionen hat das Kombinat geschaffen oder unterhalten.

Und auch der Dreck und der Ruß stammten vom Kombinat. Sie brachten der Stadt den zweifelhaften Ruhm ein, noch vor Krakau die von der Industrie geplagteste Stadt Europas zu sein. Auf einer der Brücken in der Nähe des Stadtzentrums stehen einige Angler und hoffen darauf, daß die Forellen, die in den reißenden Fluten stehen, anbeißen. „Das einzig Gute an dem Krieg ist, daß die Luft und das Wasser wieder rein geworden sind“, witzelt ein älterer Mann. „Das Wasser hier hatte eine braune Farbe, Fische gab es nicht, und das Atmen fiel sehr schwer.“ Mit dem Finger deutet er auf die Hügel und die Berge rund um die Stadt. Der Boden sei so vergiftet gewesen, daß die Stadtverwaltung gezwungen war, jegliche landwirtschaftliche Nutzung auf diesen Flächen zu verbieten.

Seit neuestem jedoch wird jedes Fleckchen Erde für den Anbau von Kartoffeln und Gemüse ausgenützt. Denn vor allem in der Zeit der Blockade 1993/94, als auch von der westherzegowinisch-kroatischen Seite aus Krieg gegen bosnische Regierungstruppen geführt wurde, hat dieser Anbau viele vor dem Hungertod gerettet. Und noch heute danken die Menschen jenen Mitgliedern der internationalen Hilfsorganisationen, die nicht nur humanitäre Hilfe nach Bosnien brachten, sondern auch Saatgut und Setzlinge.

Der Weg durch die muslimische Altstadt läßt erahnen, daß hier, vor der Modernisierung, eine orientalische Atmosphäre geherrscht haben muß. In manchen kleinen Lädchen wird selbst jetzt im Krieg neben wertvollem Schmuck auch allerlei Tand angeboten, manche Straße verengt sich zum Gäßchen, es wimmelt von Menschen, die fast alle etwas zu verkaufen haben, seien es Zigaretten oder eingemachtes Gemüse oder Obst aus dem eigenen Garten. Die meisten schauen voller Neid in die Kneipen und in die Läden, wo seit der Öffnung der Zufahrtswege an die Küste im Frühjahr letzten Jahres fast alles wieder zu haben ist.

„95 Prozent der Menschen leben nach wie vor von humanitärer Hilfe, nur denjenigen, die über Deutsche Mark verfügen, geht es besser“, sagt Besim Spahić, der Bürgermeister, ein ehemaliger Ingenieur. Die Elektrizitäts- und Wasserversorgung bereite immer noch Sorgen. „Wir können zwar manche Waren importieren, aber keine Rohstoffe für die Industrie und keine Ersatzteile. Wir wollen und müssen aber wieder produzieren.“ Die Bürger Zenicas, die Muslime, Kroaten und Serben, die in der Stadt leben, wollten endlich wieder unter normalen Bedingungen arbeiten. „Wir werden, sobald es geht, ob während des Krieges oder danach, nur die modernsten Industrien weiterführen. Gleich wettbewerbsfähig zu werden, das ist unser Ziel.“

Wunschträume oder Zukunftsmusik? „Wir stehen in Kontakt mit der deutschen Ruhr Kohle AG und mit British Steel.“ Ausländische Investoren könnten angesichts der vielen Forschungsinstitute und der qualifizierten Ausbildung auf ein hervorragendes Arbeitskräftepotential zurückgreifen, die Infrastruktur könnte in drei bis sechs Monaten wiederhergerichtet sein. Der kroatische Hafen Ploce werde in Zukunft als zollfreie Zone Bosnien zur Verfügung stehen. Besim Spahić strömt Optimismus aus. Doch beim Abschied wird seine Miene ernst. „Vom Ausland müßte mehr getan werden, um unsere Isolation zu durchbrechen.“