"Ich will nicht sterben"

■ Die Russin Valintina Tsarievskaya verläßt ihren Mann und ihr Haus in Grosny, weil sie den Bombenterror nicht mehr aushält

Grosny (wps) – Heute verabschiedet sich Valintina Tsarievskaya von ihrem Haus, ihrer Stadt und ihrem Mann. Nach Wochen voller Terror, in denen sie sich im Keller ihrer Nachbarn verkrochen hatte und dort die russischen Kriegsflugzeuge hörte, die zum tödlichen Sturzflug ansetzten, konnte sie es nicht mehr ertragen. Als Raketen und Artilleriegeschütze am hellichten Tag in die benachbarten Gebäude nahe dem Stadtzentrum Grosnys einschlugen, packte sie iher Koffer und umarmte ihren Mann. Auf sie wartete ein Lastwagen, der sie aus der Stadt brachte. Valintina Tsarievskaya ist eine der rund 400.000, die in den letzten Monaten vor den russischen Angriffen geflohen ist.

„Ich halte das einfach nicht mehr aus. Heute schlug direkt neben unserem Haus eine Bombe ein. Vor drei Tagen wurde das Nachbarhaus von Raketen zerstört. Wir schlafen jede Nacht im Keller unserer Nachbarn. Oft schlafe ich auch überhaupt nicht, weil die Bombardierung zu stark ist. Mein Mann bat mich zu bleiben, aber ich kann einfach nicht.“

Auf einem handgeschriebenem Schild an der Straße nach Grosny steht: „Willkommen in der Hölle“, und das ist nicht die schlechteste Beschreibung für den derzeitigen Zustand Grosnys. Es gibt keine gesicherten Zahlen darüber, wie viele Menschen hier in den letzten zwei Wochen starben. Schätzungen sprechen von mehreren tausend. Im Zentrum Grosnys liegen die Straßen voll von den Scherben zerborstener Fenster. Unzählige Fassaden sind zerschossen. In der Hauptstraße hängt noch ein Schild aus Sowjetzeiten: „Jeder Bürger hat das Recht auf Krankenversorgung“. Aber die dazugehörige Apotheke existiert nicht mehr.

Rund 50.000 Zivilisten sollen sich derzeit noch in Grosny aufhalten. Sei es, weil sie kein Geld für die Flucht oder keinen Zufluchtsort haben, oder weil sie – wie Valintina Tsarievskaya – ihre Heimat und ihr Zuhause nicht verlassen wollten.

Tsarievskaya ist Russin und Christin. In der letzten Zeit schämt sie sich manchmal dafür, Russin zu sein. Sie sagt, daß sie Boris Jelzin verachte, ein Trinker sei er. Und das gleiche gelte auch für Verteidigungsminister Pawel Gratschow. „Ich werde Rußland diesen Krieg nie verzeihen, nie.“ Den Versprechen des Kreml, humanitäre Hilfe für Tschetschenien zu schicken, glaubt sie nicht. „Erst zerstören sie unsere Häuser, dann töten sie uns, und dann senden sie humanitäre Hilfe. Ich hätte das nie gedacht. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, daß es jemals so weit kommen könnte. Ich wollte niemals weggehen, aber ich habe solche Angst, daß mir selbst mein Haus egal wird. Als der Krieg noch weit war, hing ich sehr an meinem Haus. Ich habe eine große Bibliothek, schöne Teppiche und Bilder. Aber wenn der Krieg da ist, dann denkst du nur noch an dein Leben.“

Trotzdem, war es eine schwierige Entscheidung, Grosny zu verlassen. In all ihren Ehejahren war sie noch nie von ihrem Mann getrennt. Ihr Mann muß in Grosny bleiben, weil er für seine alten Eltern sorgen muß. Seit Wochen kämpfen sie um ihr Haus und um ihr Leben. Ihre Möbel brachten sie in einen sicheren Keller.

Weil es keine Elektrizität mehr gab, speisten sie ihr Radio mit der Batterie ihres 24 Jahre alten Autos. Sie aßen Kartoffeln inGläsern eingelegte Tomaten, Peperonis und Gurken. Wie die anderen, die in Grosny blieben, brachten sie täglich Stunden damit zu, nach Wasser zu suchen.

Aber von Tag zu Tag wurde die Bombardierung in ihrem Bezirk stärker. Am Mittwoch schlug eine russische Rakete drei Häuser entfernt ein. Die Nachbarn hatten die Stadt schon verlassen, und die Rakete ist nicht explodiert. Aber ihr Aufprall war so groß, daß sie das Dach zerstörte. Das war der Moment, in dem Valintina Tsarievskaya beschloß, die Stadt zu verlassen. Sie will zu ihrer 22jährigen Tochter gehen, die ein paar hundert Kilometer nördlich wohnt. In einer Seitenstraße bat sie Journalisten um eine Mitfahrgelegenheit.

„Erst wenn du selber gelitten hast, kannst du die verstehen, die leiden. Nur wenn du selber im Bombenhagel sitzt, kannst du verstehen, wie schrecklich das ist. Ich hörte einen russischen General im Radio sagen, daß in 30 oder 40 Jahren die Leute sagen würden: ,Gut, viele Menschen sind gestorben, aber das wichtigste ist doch, daß Rußland zusammengehalten wurde.‘ Ich will aber nicht sterben. Und was die Tschetschenen betrifft, werden sie alles ihren Kindern erzählen. Sie werden das nie vergessen.“ Lee Hockstader