Der große Wels und sein Zerstörer

■ Wenn der Knochenfisch sich regte, gab es im alten Japan auch Grund zum Feiern: Der Wels brachte nicht nur Kummer

Laut „Jinten ainosho“, einem Buch, das in der späten Muromachi-Periode veröffentlicht wurde, gibt es vier Erdbebentypen, nämlich Kashindo, Ryushindo, Konjishodo und Taishakudo. Alle vier basieren auf Namen von Göttern. Die Unterscheidung wurde nach den Zeiten und Daten der Beben getroffen. In einem Land mit so häufigen Erdbeben wie Japan nimmt es allerdings nicht wunder, daß es Erdbebenwahrsager gab, die voraussagen konnten, welcher Gott welches Erdbeben hervorrufen würde. Sie unterschieden nach der Art des Bebens. Bei Kashindo trockneten die Flüsse aus, bei Ryushindo oder Konjishodo gab es keinen Regen. Bei Taishakudo aber wurde vorausgesagt, daß die Welt nach dem Beben still und sicher sein werde und daß es reiche Ernten gibt. Erdbeben wurden also nicht unbedingt als böses Omen betrachtet.

Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Japaner von Erdbeben erholen. Selbst nach dem großen Beben im Kanto-Gebiet von 1923, das auch Tokio erschütterte, gab es zwar einen Run der Sparer auf die Banken und eine Finanzkrise, aber der Wiederaufbau war in wenigen Jahren abgeschlossen.

1855, nach dem großen Beben von Ansei in der späten Edo-Zeit verbreitete sich in Japan plötzlich eine mysteriöse Flugschrift unter dem Titel namazue (Wels-Bilder). Es war eine Satire auf die Japaner, die einen Weg suchten, den großen unterirdischen Wels zu beruhigen, der als Auslöser des Erdbebens galt. Die Schrift zeigte Japaner die ihren Wohlstand und ihr Leben verloren, weil der zornige große Knochenfisch ein Feuer verursacht hatte. Auch Händler waren zu sehen, die Feste feierten, tanzende Prositiuierte und schleimig lächelnde Zimmerleute und Handwerker. Denn nach der Katastrophe würde es einen Bauboom geben, und davon würden auch die Prostituierten profitieren. Nach Erdbeben und Feuern hatten Prostituierte, die sonst unter strengen Bedingungen lebten, oft alle Freiheiten. In Wohlstand und Freiheit realisierte sich ohne Zweifel das Glücksversprechen, das die Wahrsager häufig in Erdbeben sahen.

Der rätselhafte Erdebeben- Wels, der sowohl Katastrophen als auch Wohlstand bringen kann, wird in der Tradition eng mit Kasigami, dem Zerstörer-Gott des Welses, in Verbindung gebracht. Dieser Gott der Gnade kann den erdbebenbringenden Fisch mit Hilfe einer Art Nabelschnur, dem kanameishi, unter Kontrolle bringen. Warum Kasigami als Vernichter des Welses gilt, ist unbekannt, aber interessanterweise wird er zugleich als Schutzgott der Händler und als Glücks- und Wohlstandsgott angebetet.

Auch im heutigen Japan wird viel über bevorstehende Erdbeben, die für die Tokioter Region erwartet werden, geredet. Die meisten Menschen haben große Angst davor, aber es gibt auch eine Erwartung, daß das Beben Anlaß zu einer „Sozialreform“ geben könnte. Viele Leute scheinen fast mit Sehnsucht auf den großen Rutsch zu warten. Aramata Hiroshi

(Aus: „Sun“, 100 Key words for Understanding Japan, August 1993. Übersetzung: thc