■ Vorlesungskritik
: Das süße Gift der Ohnmacht

Wenn an einer deutschen Universität jemand ans Katheder schreitet, der sein Leben nicht nur im akademischen Dunstkreis zugebracht hat, muß er sich entschuldigen. Er sei ein „vielbeschäftiger Mensch“ und sein Vortrag „Über Zivilcourage in Demokratien und Diktaturen“ daher „kein originelles Produkt“, bat Joachim Gauck vor den Politologen der Freien Universität im Otto-Suhr-Institut (OSI) um Verständnis. Später, wenn er nicht mehr die Stasi-Unterlagen verwalten muß, versichert er, werde er „viel substantiellere Vorträge halten“.

Freilich war Gaucks Verbeugung vor dem akademischen Milieu nichts als Koketterie. Zum einen wird ihm nicht entgangen sein, daß seine theologisch geschulte Rhetorik den Vergleich mit dem blasierten Stammeln vieler Universitätsprofessoren nicht zu scheuen braucht. Zum anderen ging er mit den Akademikern hart ins Gericht. „In jenen dunklen Zeiten, in denen der Geist hätte leuchten sollen“, hätten sie ihn „in den Dienst trüber Dinge gestellt“. Manchmal, so erkannte er, „macht Wissen schuldiger, als daß es befreit“.

Doch nicht nur um Zivilcourage in Diktaturen war es Gauck zu tun. Den „Zugang zu Wahrheiten aus Lagersicherheit, die Selbstbindung durch Ideologie“ gebe es „auch und gerade im Westen“. Am OSI habe doch, kritisierte Gauck, linke Lagermentalität lange Zeit als „Ausweis für Analysefähigkeit“ gegolten. Hinter der verbreiteten Attitüde „intellektuellen Skeptizismus“ sieht der Herr der Akten nichts als „das süße Gift der Ohnmacht“ wirken.

Nicht annehmen mag Gauck die „reizenden Einladungen“ zum Stasi-Schlußstrich von Leuten, die der Bundesrepublik lange genug die mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozialismus vorgeworfen hätten. „Es gibt hier so einen Dahlemer Rechtsprofessor, der heißt Wesel.“ Schließlich habe Adenauer durch die von Linken neuerdings gepriesene Integration der Altnazis „eine ganze Generation desintegriert“ – die Achtundsechziger.

Man hätte glauben können, daß diese Töne am OSI nicht jeden erfreuen. Dennoch regte sich in der Diskussion kaum Widerspruch. Nur ganz vorsichtig, in ein Zitat gekleidet, fragte jemand nach der „pogromartigen Verfolgung von IM“ und wollte von Gauck wissen, warum er mangelnde Zivilcourage nur bei Linken konstatiere. Der wollte das gar nicht prinzipiell verstanden wissen: „Ich komme aus diesem linksprotestantischen Lager, und die Fehler, die da passieren, bewegen mich mehr.“

„Ein ganz besonderer Graus“, fügte er noch hinzu, seien ihm die deutschen Intellektuellen, ihr Untertanengeist und die Bereitschaft zum „Opfern der Zivilcourage auf den Altären von Macht und Karriere“. „Typisch deutsch“ findet er deren Oberlehrerattitüde. Im Westen hätten sie immer genau gewußt, was die richtige Demokratie sei, im Osten hätten sie denen zuletzt beigebracht, wie man Sozialismus mache. „Wer soviel zu lehren hat, der kann nicht mehr lernen.“ Dafür bekam er den meisten Applaus, die Welt im Hörsaal war wieder in Ordnung. Auf eine abstrakte Deutschlandbeschimpfung kann sich die deutsche Linke allemal noch verständigen. Ralph Bollmann