Bahn frei für Ochse Ludwig

■ Morgen wird die 60. „Grüne Woche“ eröffnet / Die Veranstaltung hat sich von Deutschlands größter Freßmesse zur weltweit größten Agrarschau entwickelt / 1.272 Firmen aus 62 Ländern stellen aus / Drei Sonderschauen

Berge von Würsten, dampfende Suppen, deftige Tortillas und Bier umsonst – das ist es, wofür bei vielen Berlinern die „Grüne Woche“ steht. Noch ist davon nicht viel zu sehen. Was morgen den Eindruck eines kulinarischen Elysiums vermitteln soll, erweist sich heute noch als ein Stapel Preßspanplatten. Es riecht nicht nach gebratenen Gänsen, sondern nach Sägespänen, zukünftige „Bodegas“ sind in PVC gehüllt, und statt exotischer Klänge empfängt den Besucher das Gekreische von Bohrern. Die 60. „Grüne Woche“ wird aufgebaut. In 26 Hallen laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Die Franzosen sind am weitesten. Über den weißen Sperrholzständen hängen schon die Schilder, auf denen steht, was es später zu kosten gibt. Austern aus Arcachon, Calvados aus der Normandie und natürlich eine Fromagerie. Eine Reihe Riesenkühlschränke steht noch im Weg, dafür ist der Eiffelturm am rechten Platz. Tschechien ist an einer großen „Staropramen“-Bierreklame zu erkennen, und Irland hat es sogar schon zu einem Sperrholz-Pub gebracht.

Die noch kleineren Nationen haben es da schwerer. Nepal wird von einem einzigen Vertreter aufgebaut, und von Lettland, Gambia oder Hongkong ist bis jetzt noch überhaupt keine Spur zu finden.

Morgen wird die „Grüne Woche“ eröffnet. Über fehlende Publikumsresonanz konnte sie sich in den letzten Jahren nicht beklagen. Rund 500.000 Menschen besuchten 1994 die weltweit größte Agrarschau, dieses Jahr werden nicht weniger erwartet. Manfred Buscher, Vorsitzender der Geschäftsführung der Messe Berlin GmbH, zog schon gestern eine positive Bilanz. 62 Länder seien in diesem Jahr auf der Messe vertreten, acht mehr als 1994. Die „Grüne Woche“ habe sich von einer Freßveranstaltung zur Agrar- Fachmesse mit über 1.272 ausstellenden Firmen gemausert. Besondere Anziehungspunkte sollen drei Sonderschauen werden: „Bier und Gastronomie“, „Spezialitäten aus Deutschland – die ganze Vielfalt der Regionen“ sowie eine Azaleenschau. Werbung hat die deutsche Landwirtschaft auch bitter nötig. 1994 ging der Umsatz weiter zurück und mit ihm die Beschäftigungszahl.

Die Exposition des Landwirtschaftsministeriums „Bier und Gastronomie“ wird unter dem Motto „Deutsches Bier von hoher Qualität – auch im Ausland sehr beliebt“ die Leistungsfähigkeit der hiesigen Brauwirtschaft demonstrieren. 1.600 verschiedene Sorten Flaschenbier sind ausgestellt. Eine kleine Brauerei dampft vor sich hin, nebenan ein Hopfengarten. „In Deutschland hat jedes Bier Spitzenqualität, besonders die bayerischen“, weiß der Geschäftsführer der Verbandes der Privatbrauereien von Bayern und Baden-Württemberg zu berichten. Bier ist nach seiner Auffassung ein wichtiges Lebensmittel, von dem man mindestens eine Flasche pro Tag zu sich nehmen sollte.

In Halle 8.2 ist das Land Brandenburg dabei, das Panorama für seine Produktschau zusammenzuzimmern. Und das ist wörtlich zu nehmen. An den Wänden hängt bereits ein Landschaftspanorama, das jedes Zimmerposter zur Briefmarke werden läßt. Wiesenauen, Alleen, Seen – Hauptsache grün. Zwischen Leitungsverlegern und Standinhabern, die sich bereits jetzt über ihren Standort beschweren, hetzt die Organisationsleiterin Frau Zille hin und her. Denn das Gesamtkunstwerk Brandenburg soll später Gemütlichkeit ausstrahlen. Dorfcharakter soll präsentiert werden. Und Marktatmosphäre. Vertreten sind hier vor allem kleine und mittelständische Betriebe aus dem Ernährungssektor, aber auch Handwerksbetriebe. Töpfereien, Korbflechter, Glasbläser. Nicht gerade das übliche Handwerk, eher Folklore, könnte man meinen. Doch in den letzten Jahren sei das Geschäft gut gelaufen. Einen besonderen Renner hätte es nicht gegeben, so Frau Zille. Klar, die Spreewaldgurke, aber ansonsten sei das Interesse an allen Produkten gleich.

Weg von den Gefilden späterer Gaumenfreuden, hin zum „lebenden Exponat“. Halle 25 widmet sich der extensiven Tierhaltung. Auf 7.500 Quadratmetern sind in wochenlanger Zimmererarbeit provisorische Unterkünfte für Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen und Federvieh entstanden. Die Arbeiten sind noch lange nicht zu Ende. Die ersten Gäste jedoch wurden bereits einquartiert. In einer Hallenecke hocken die „glücklichen“ Hühner artgerecht zusammengepfercht in einem Käfig.

Eine ganze Halle für extensive Tierhaltung. Eine Antwort auf die sich im letzten Jahr stets wiederholenden Fleischskandale? Hans- Jürgen Petersen, zuständig für den Agrarteil der Messe und selber Bauer, ist vorsichtig. Zunächst solle in dieser Halle der Dialog zwischen Verbrauchern und Produzenten in Gang gebracht werden. Die Artenvielfalt der Robustrassen solle demonstriert und gleichzeitig dem Verbraucher die höheren Kosten der Biohaltung vor Augen geführt werden. Dem Verbraucher empfielt er, weniger, aber dafür besseres Fleisch zu essen. Vor den Augen der Besucher wird sich auf jeden Fall eine Menge Vieh tummeln, sogar freilaufend. In der Mitte der Halle entsteht eine Art Rodeoplatz, zur Hallendecke erhebt sich die Zuschauertribüne. Bahn frei für Ochse Ludwig.

Natürlich ist am besten. Und natürlich ist Australien am besten. „Australia – naturally the best“ ist am noch nicht ganz aufgebauten Australienstand zu lesen. Der Organisator mit Dreitagebart sieht aus, als hätte er selber schon mindestens ein Känguruh geschossen. Für ihn ist es klar: Känguruhfleisch ist am besten. Freilaufhaltung versteht sich von selbst. Bisher Uneingeweihten empfielt er, in den kommenden Wochen unbedingt den Känguruhgulasch zu kosten oder gar ein Steak.

Einen blumigen Höhepunkt, den man ob der Gaumenfreuden auf keinen Fall verpassen sollte, hält der Freitag bereit. Monika Diepgen, die Frau des Regierenden Bürgermeisters, wird am 20. Januar 1995 Taufpatin. Eine Topfazalee (Rhododendron simsii), die bis jetzt schlicht als „HN 37“ bezeichnet wurde, erhält den schönen Namen Spreeperle. Matthias Bernt/Kerstin Schweizer