Dichter, Denker, Redakteure

Immer Ärger mit Castorf? Dauerwirbel um Botho Strauß? War alles erst der Anfang! Ein Ausblick auf 1995, das Superprahljahr des deutschen Feuilletons

27. Februar: Zwischen Henryk M. Broder und der Feuilletonredaktion des Tagesspiegels treten Spannungen auf, nachdem Broder in der Süddeutschen meinte, ihm sei erst jetzt klar geworden, daß der Feuilletonredakteur des Tagesspiegels, Tilman Krause, mit dem er seit einiger Zeit fruchtbar zusammenarbeite, auch jener Tilman Krause sei, der in dem umstrittenen Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ einen Aufsatz veröffentlicht habe.

Ausdruck der Spannungen ist eine Äußerung Broders, Krause sei ein „braunlackierter Stalinist“, mit dem er nur noch zusammenarbeiten könne, falls der Verlag seine (Broder meint sich selbst; Anm. d. Red.) Honorare verdopple.

2. März: Peter Iden schreibt in einem Kommentar der Frankfurter Rundschau, Broder habe sich mit dem Ausdruck „braunlackierter Stalinist“ endgültig als „Blockwart der Nation“ geoutet. Bezeichnend für Broders „wild wuchernden Sprachmüll“ sei, daß er von einer „furchtbaren Zusammenarbeit“ spreche.

4. März: Broder stellt in der Süddeutschen klar, er habe von einer „fruchtbaren Zusammenarbeit“ gesprochen.

1. April: Die Auflage von Theater heute sinkt, nachdem alle Theater das Fachblatt boykottieren, rapide unter 500. Peter von Becker schreibt in einem Editorial, die Redaktion habe wieder einen Brief von Botho Strauß erhalten, diesmal mit der ausdrücklichen Bitte um Veröffentlichung. Strauß schreibe, so von Becker, er habe in den letzten Tagen erneut den „Bildungswandel einer freien Person durchlebt“ und könne nicht mehr sagen, die Redaktion von Theater heute sei „auch nur annähernd so anstößig wie er selbst“. Becker schließt damit, Theater heute veröffentliche den Brief von Botho Strauß zwar nicht, wolle der Öffentlichkeit aber nicht vorenthalten, daß das Tischtuch zwischen Botho Strauß und Theater heute nicht völlig zerschnitten sei.

3. April: Peter Iden kommentiert in der Frankfurter Rundschau, Peter von Becker und Theater heute wollten wieder einmal nur die Auflage steigern und hätten, da der Autor das ausdrücklich vermerkt habe, den neuen Strauß- Brief auf jeden Fall veröffentlichen müssen. Außerdem könne man so nicht überprüfen, ob Strauß richtig zitiert werde.

4. April: Die FAZ gibt sich empört über Botho Strauß' neue Wandlung und druckt noch einmal einen Brief des umstrittenen Autors ab, den sie bereits am 27. Oktober 1994 abgedruckt hatte. In dem Brief lobt Strauß den Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ und meint mit Blick auf die rechtslastigen Aufsätze: „Das Wort konservativ ist dabei im Grunde völlig fehl am Platz und kann allenfalls als provisorischer, operationeller Begriff taugen, indem es natürlich ist, daß das geschichtliche Individuum in der Ereignisoffenheit, in der Gefahr auch, auf etwas zurückgreift, das ihm einmal größere Gewißheit gab.“

18. April: Nachdem Henryk M. Broder nicht bereit ist, sich bei Tilman Krause zu entschuldigen, und lediglich einräumt, er würde heute nicht mehr „braunlackiert“, sondern „braungetüncht“ schreiben, wird Tilmann Krause vom Tagesspiegel entlassen. Begründung: „Ein Redakteur ist immer zu ersetzen, einer wie Henryk M. Broder nicht.“

10. Mai: Frank Castorf schreibt im ersten Beitrag zu einer neuen Serie im FAZ-Feuilleton mit dem Titel „What's los“, wenn man heute nicht mehr sagen dürfe, daß „die Volksseele sich immer wieder in einem Blutbade verjüngen muß“, helfe nur noch „ein neues Tschernobyl“. Im übrigen, so Castorf, müsse er sich korrigieren. Er sei kein „mystischer Antikapitalist“, sondern ein „spiritueller Pseudosozialist“. Jens Jessen, FAZ-Jungredakteur, verbittet sich in einem Editorial zur neuen Serie von vornherein jede Kritik an Castorfs Äußerungen und meint wörtlich: „Nicht jedes Wort durch die Gaskammer einer linken Zensur zu jagen, wäre Ausdruck einer Diskussionskultur, wie wir sie brauchen.“

11. Mai: Ulrich Greiner nennt Jens Jessen in der Zeit einen „89-Revisionisten“, der die 68er im Visier habe.

16. Juni: In der Hamburger Journalistenschule denkt man darüber nach, Henryk M. Broder als Nachfolger des in den Ruhestand tretenden Wolf Schneider zu berufen. Broder schreibt am selben Tag in der FAZ, er könne sich das prinzipiell vorstellen, das Institut müsse aber zuerst in „H.-M.-Broder-Feuilletonschule“ umbenannt werden. Falls er die Leitung übernehme, sei eines seiner pädagogischen Nahziele der sogenannte „Online-Broder“. Junge Feuilletonisten sollten in einem Anfängerkurs lernen, Stellungnahmen zu jedem beliebigen Thema prägnant und vernichtend in Sekundenschnelle zu produzieren.

Fernziel, so Broder, sei das sogenannte „Runde Broderfeuilleton“. Der junge Feuilletonist müsse in diesem Aufbaukurs lernen, im Spiegel zu einem Thema Stellung zu beziehen, diese Stellungnahme in der Woche ganzseitig auszuformulieren, in der Süddeutschen die Stellungnahme zu dementieren, um in der FAZ modifiziert nachzuhaken und im Tagesspiegel die Stellungnahme, die schon einmal im Spiegel abgedruckt wurde, mit leichten Veränderungen noch einmal an den Redakteur zu bringen.

14. Juni: Das Literarische Quartett wird kurz unterbrochen, es er

Fortsetzung auf Seite 17

Fortsetzung

scheint das Logo des Wochenmagazins Focus, das den Literatur- Talk seit neuestem sponsert. Marcel Reich-Ranicki nutzt die Unterbrechung, um auf die „Verluderung“ im deutschen Feuilleton aufmerksam zu machen und die Gründung eines Zentralkomitees des deutschen Feuilletons zu initiieren, in dem Redakteure der wichtigsten Zeitungen über die „Anständigkeit“ im Feuilleton wachen.

16. Juni: Henryk M. Broder schreibt in der FAZ, was Reich- Ranicki vorschlage, habe er (Broder meint sich selbst; Anm. d. Red.) schon vor einem halben Jahr in der Woche initiiert.

7. Juli: Hellmuth Karasek (Spiegel), Ulrich Greiner (Zeit) und Peter Iden (Frankfurter Rundschau) melden sich spontan als Kandidaten für das ZK des deutschen Feuilletons und werden ebenso spontan mit zwei Enthaltungen von den Restfeuilletonisten gewählt.

Benjamin Henrichs von der Zeit enthält sich, weil Karasek im Spiegel-Special „Journalisten“ (Januar 95) sich über den „plappernden Henrichs“ und seine „längst bürokratisch abgeschlaffte Sprache“ ausgelassen hatte. Zweite Enthaltung: Peter von Becker trägt Iden weiterhin nach, daß der ihm in der Strauß-Affäre „heruntergekommen-linkes Mainstream-Gequatsche“ attestierte. Peter von Becker wörtlich: „Ich weiß doch gar nicht, was links ist“.

12. Juli: Auf Intervention von Joachim C. Fest soll der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher als viertes Mitglied in das ZK gewählt werden, was zu einer ersten Zerreißprobe führt.

20. Juli: Die Woche vermeldet, der Konflikt sei vorerst beigelegt, nachdem Karasek, Greiner und Iden einer Konstruktion zugestimmt hätten, in der Frank Schirrmacher nun doch mitmachen darf. Schirrmacher wird erster Alterspräsident des Zentralkomitees.

15. August: Sommerpause

7. September: Die Zeit läßt eine Bombe platzen und stellt nach Greiners Abgang den neuen Feuilletonchef vor: Henryk M. Broder. Robert Leicht, Chefredakteur der Zeit, räumt ein, man könne das tatsächlich als Präventivschlag verstehen, da sich die Zeit zunehmend von Broder umzingelt gefühlt habe.

22. September: Luc Bondy bringt an der Berliner Schaubühne die Dramatisierung von Botho Strauß' neuestem autobiographischem Prosatext zur Uraufführung. Titel: „Gleichgewicht im reifen Backfischalter“. Strauß schreibt in einem Brief an die Süddeutsche, er selbst hätte Theater- heute-Redakteure zur Uraufführung zugelassen, es sei die Schaubühne gewesen, die ihnen den Zutritt verweigerte. Inzwischen denke er darüber nach, seine Stücke für die Schaubühne zu sperren. Botho Strauß dann wörtlich: „Ich überlasse es Ihnen, Herr Sucher, ob Sie diesen Brief veröffentlichen“.

28. September: André Müller entlockt dem jüngsten Alterspräsidenten Deutschlands, Frank Schirrmacher, in einem Zeit-Interview den Satz: „Im Feuilleton habe ich alles erreicht, jetzt kann ich eigentlich nur noch Kanzler werden.“

1. Oktober: Die Auflage von Theater heute übersteigt zum ersten Mal wieder die Marke von 500.

4. Oktober: Frank Schirrmacher lanciert im FAZ-Feuilleton, Iden habe Greiner während einer Sitzung des Feuilleton-ZKs einen „alkoholisierten 68er“ genannt. Greiners Erwiderung, so Schirrmacher, sei „rechter Stamokapismus“ gewesen, worauf Karasek beide „Kultur-Wichtel“ genannt habe.

10. Oktober: Joachim C. Fest denkt in einem Kommentar auf der FAZ-Titelseite laut darüber nach, das Feuilleton-ZK wieder abzuschaffen. Sein Artikel schließt mit den Sätzen: „Jetzt, da ich nicht mehr Mitherausgeber dieser Zeitung bin und etwas zur Ruhe komme, frage ich mich, ob die FAZ tatsächlich ein Feuilleton braucht. Ja, ich würde sogar die Frage stellen, ob Deutschland ein Feuilleton braucht.“

1. November: Theater heute stabilisiert sich bei einer Auflage von 586. Der Verlag plant eine Fusion mit Tempo, um, so wörtlich, „wieder Tuchfühlung mit jüngeren Käuferschichten aufzunehmen“.

16. November: Die Zeit gliedert ihr Feuilleton dem Reiseteil an. Henryk M. Broder übernimmt nun doch die Leitung der Hamburger Journalistenschule.

7. Dezember: Die Woche gibt bekannt, man könne schon deshalb nicht über eine Umstrukturierung des Feuilletons nachdenken, weil man lediglich „Kulturseiten“ habe.

22. Dezember: Die Süddeutsche reduziert ihr Feuilleton wieder auf eine Seite und nennt es künftig „Menschen und Ereignisse“. Begründung: Seit Broders Kaltstellung in der Journalistenschule gebe es niemanden mehr, der Stellung beziehen könne.

27. Dezember: Die FAZ will ihr Feuilleton dem Ressort „Deutschland und die Welt“ angliedern. Frank Schirrmacher fordert die taz auf, aus den Umstrukturierungen der anderen Zeitungen Konsequenzen zu ziehen und die Situation nicht „schamlos zur Errichtung eines linken Feuilletonmonopols“ auszunutzen. Jürgen Berger