Angst unter beschaulicher Fassade

Der Alltag in der türkisch-kurdischen Stadt Diyarbakir scheint friedlich / Aber der Krieg um Kurdistan ist nicht zu verdrängen: Die Stadt füllt sich mit Flüchtlingen, der Terror kommt mit ihnen  ■ Aus Diyarbakir Antje Bauer

Nach Diyarbakir? Wieso denn ausgerechnet nach Diyarbakir? Wer ohne Not in die heimliche Hauptstadt der türkischen Kurden fährt, wird in der Westtürkei mißtrauisch angestarrt. In Diyarbakir, da herrscht Krieg. Nachrichten von dort sind Nachrichten über Tod und Folter, über Hinterhalte, über gefallene Soldaten und Vaterlandsverräter. Je weniger man mit der verfluchten Region zu tun hat, desto besser. Nie war Diyarbakir weiter entfernt von der Westtürkei als heute.

Die Überlandbusse nach Diyarbakir nehmen weite Umwege, um nicht durch unruhiges Gebiet zu müssen. Auf den letzten hundert Kilometern unterbrechen häufige militärische Kontrollen die Fahrt. Die Passagiere des Reisebusses müssen aussteigen, sich in einer Reihe aufstellen, die Ausweise abgeben, das Gepäck öffnen. Sie lassen es schweigend über sich ergehen. Man kennt das schon. Alle paar Kilometer steht ein Panzer am Straßenrand, den Turm drohend in die umliegenden kahlen Hügel gerichtet. Dort lauert die Gefahr, von hier starten die Kämpfer der PKK ihre nächtlichen Angriffe auf die Militärposten.

Auch die PKK macht Straßenkontrollen, meist nachts. Dann müssen alle aussteigen, sich in einer Reihe aufstellen, die Ausweise vorzeigen – man kennt das schon. Anders als bei den Militärs schließt sich manchmal ein kleiner Vortrag in revolutionärer Propaganda an, bevor die Passagiere weiterfahren dürfen. Ebenso wie die Militärposten aber greift sich die PKK gelegentlich verdächtige Personen heraus. Und ebenso wie nach Militärkontrollen werden diese Verdächtigen manchmal Tage später irgendwo tot aufgefunden.

Entgegen allen Kassandrarufen wirkt die Stadt Diyarbakir ruhig. Vor wenigen Jahren noch hatten Polizei und Militär die Ankommenden bereits am Busbahnhof auffällig taxiert und beobachtet. Jetzt sieht der graue, etwas schläfrige Bahnhof aus wie immer in der Provinz. Zwar stehen an allen wichtigen Straßenkreuzungen der Stadt Panzer, und gelegentlich sind Soldaten zu sehen. Doch die militärische Belagerung von vor einigen Jahren ist vorbei. Auf den Straßen fahren jetzt statt der Panzerfahrzeuge wieder vor allem Pferdefuhrwerke, eingeengt nur vom wachsenden Autoverkehr. Das Stadtzentrum ist belebt. Überall sitzen ambulante Händler auf dem Bürgersteig, vor ihnen Säcke voll mit Walnüssen, Äpfeln und losem hellbraunem Tabak.

Aufstellen, Ausweise vorzeigen – man kennt das

Bis Mitternacht sitzen die Männer in den zahllosen Teegärten entlang der alten Stadtmauer oder flanieren auf der Gazi-Caddesi, der Hauptgeschäftsstraße. Doch der friedliche Eindruck, den Diyarbakir auf den ersten Blick vermittelt, weicht einem Gefühl des Grauens, sobald man ein wenig an der Oberfläche kratzt.

„Es herrscht im Moment eine Stille hier in der Stadt“, räumt Mahmut Șakar ein. „Aber das liegt an der Unterdrückung. In den letzten zwei Jahren sind in Diyarbakir Hunderte Menschen von unbekannten Tätern umgebracht worden. In der Region sind etwa 2.000 Dörfer evakuiert worden. In jeder Familie wurde jemand festgenommen. Nun ist ein großes Schweigen ausgebrochen.“

In jeder Familie wurde jemand festgenommen

Mahmut Șakar ist Vorsitzender des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir. Vor dem Gebäude, in dem der Verein seine Räume hat, stehen immer zwei Polizisten und beobachten, wer ein und aus geht. Gelegentlich werden Besucher direkt bedroht. In den Räumen sitzen buntgekleidete Bäuerinnen mit bekümmertem Gesicht. Die Wände sind mit Fotos von zerstörten Dörfern und verstümmelten Menschen übersät – Bilder des Krieges vor den Toren der Stadt.

Die Möglichkeiten des Vereins, wirksam etwas gegen die Menschenrechtsverletzungen zu tun, sind gering. Denn die Situation in den kurdischen Gebieten hat sich in den letzten zwei Jahren erheblich verschärft. Immer wieder verschwinden Menschen, die festgenommen wurden. Keine Polizeistelle gibt zu, sie in Gewahrsam zu halten. Ihre Leichen werden dann irgendwo aufgefunden – oder sie bleiben für immer verschwunden. „Die Leute kommen inzwischen nicht mehr wegen Folter hierher“, berichtet Șakar bitter. „Denn gefoltert wird sowieso ausnahmslos jeder, der festgenommen wird. Hier geht es ums nackte Überleben. ,Was können wir tun‘, sagen die Leute, ,unser Sohn ist festgenommen worden.‘ Wir gehen dann zum Gericht und schreiben ein Gesuch. Wenn sie erfahren, daß ihr Sohn festgenommen worden ist, freuen sie sich. ,Unser Sohn wird nicht sterben‘, sagen sie. ,Er wird zwar gefoltert werden. Oder unsere Tochter wird gefoltert werden. Mit den Aussagen unter der Folter wird sie verurteilt werden und jahrelang im Knast sitzen. Aber das macht nichts. Hauptsache, sie lebt.‘“

Unter der Fassade des geschäftigen Alltags einer Provinzstadt sitzt überall die Angst. „Immer wenn es an der Tür klingelt, fahre ich zusammen“, sagt ein Geschäftsmann. „Vor ein paar Wochen ist mein Büro durchsucht worden. Sie haben alles drunter und drüber geschmissen. Und nur weil Polizisten in der Westentasche meines Lehrlings eine Kassette von Ahmet Kaya gefunden haben. Seither habe ich keine Ruhe mehr.“ Ahmet Kaya ist beileibe kein verfemter Sänger in der Türkei: Just in den Tagen der Beschlagnahmung der Kassette gab ebendieser Kaya ein Konzert, das im staatlichen Fernsehen TRT übertragen wurde. Doch in den kurdischen Gebieten herrschen eben andere Gesetze.

„Bist du Journalistin?“ fragt der junge Kellner im Teegarten. Die meisten Ausländer in Diyarbakir sind Journalisten oder Politiker, man vertraut ihnen. „Warst du in Lice und Kulp?“ fragt der Kellner weiter und zupft nervös an der Tischdecke. „Ich bin von dort. Sie haben alles bombardiert. Wir mußten weg. Es ist furchtbar“, fügt er mit leiser Stimme hinzu. Nicht eine Minute lang vergißt das scheinbar unbekümmerte Diyarbakir, was in den Bergen außenherum geschieht. Innerhalb der letzten drei Jahre sind etwa eine Million Bauern aus den Dörfern zu Verwandten in die Stadt gezogen. Deren Einwohnerzahl verdreifachte sich, 1,5 Millionen Menschen leben heute in Diyarbakir.

Wer kann, flieht allerdings weiter weg, in den Südwesten, in den Nordwesten, nur weg. Zwei Millionen kurdische Flüchtlinge sollen sich allein in Istanbul aufhalten. Die meisten leben in Außenbezirken ohne Asphalt und fließend Wasser, inmitten von Schlamm, Kälte und bitterer Armut. Oder sie ziehen in enge Wohnungen zu Verwandten. Ein zehnköpfige Familie pro Zimmer ist keine Seltenheit mehr. Hier fühlen sie sich sicherer. Doch die meisten finden keine Arbeit. Ihre Kinder vergrößern die Schar der Schuhputzer in den Straßen Istanbuls, die noch um Mitternacht die Hoffnung auf einen Kunden nicht aufgeben dürfen. Den Groll, daß sie in eine ausweglose Situation hineingezwungen worden sind, haben die Flüchtlinge mitgenommen, er wächst. „Die PKKler kommen, man gibt ihnen Brot. Dann kommen Soldaten, man gibt ihnen auch Brot. Was soll man denn sonst tun?“ klagt aufgebracht ein Bauer, der aus seinem Dorf nach Istanbul geflohen ist. „Wenn man der PKK kein Brot gibt, muß man entweder Dorfschützer werden oder abhauen. Nur wenn man Dorfschützer wird, kann man bleiben. Wenn man den Soldaten kein Brot gibt, wird das Dorf mit einem drin verbrannt.“

Die Entvölkerung der Dörfer hat katastrophale Auswirkungen auf die Handelsstadt Diyarbakir. Sie lebt vom Handel mit Agrarprodukten und dem Vieh, das in den Bergen gezüchtet wird. Doch Land- und Viehwirtschaft wird unmöglich, wenn die Bauern flüchten müssen. Behlül Yavuz, der Vorsitzende der Kleinhändler- und Industriekammer von Diyarbakir, zeichnet ein düsteres Bild von den Aussichten der Händler in der Stadt. Denn der jetzige Krieg hat die traditionelle Unterentwicklung und Armut noch verschärft. Daß am Mangel an Infrastruktur und Investitionen die PKK schuld sei, wie die Regierung behauptet, bestreitet Yavuz entschieden: „Der Staat sagt, wenn es diesen Krieg nicht gäbe, dann würden sie hier investieren und modernisieren. Aber da fragt man sich doch: Gab es hier vor zehn Jahren noch keine Kurden? Wieso hat man vor 1984 keine demokratischen Schritte vollzogen, wieso hat man hier nicht investiert?“ Ohne politische Lösung keine wirtschaftliche Entwicklung. Daß aber irgend jemand der Beteiligten an einer politischen Lösung interessiert ist, bezweifelt Yavuz. „Ich meine, dieser Krieg ist eine Sackgasse. Aber die Kurden werden vom Staat zu diesem Krieg erzogen. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Gleichzeitig aber fürchten sich sowohl der Staat als auch die andere Seite vor einer demokratischen Öffnung. Denn wenn die Demokratie zunimmt, geht ihre Basis verloren. Deshalb hat man zur Zeit den Eindruck, daß die Gewaltparteien den zum Schweigen zu bringen versuchen, der von Demokratie spricht.“

Worin ein Ausweg aus der sich ständig steigernden Gewaltspirale bestehen könnte, weiß niemand so recht. Die DEP, die von den Kurden am meisten gewählte Partei, ist vom Staat verboten worden, einige ihrer Abgeordneten wurden erst kürzlich wegen Terrorismuspropaganda zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Nachfolgerin der DEP, die Hadep, ist nur ein Schatten – hier hat man das Vertrauen in einen Ausweg auf parlamentarischem Wege weithin verloren.

Die Flugzeuge sind voll mit kahlgeschorenen Rekruten

Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Frühjahr hat in den Kurdengebieten erstmals die islamistische Refah-Partei einen haushohen Sieg errungen. Selbst Diyarbakir hat nun einen islamischen Bürgermeister. Doch diese Stimmen sind mehr als Ablehnung der anderen Parteien zu begreifen denn als Zunahme der Religiosität.

Inmitten der allgemeinen Ausweglosigkeit hat die Parteigründung der „Neuen Demokratiebewegung“ des türkischen Yuppies Cem Boyner hohe Erwartungen ausgelöst. Boyners Meinung zum Kurdenproblem ist ebenso banal wie für türkische Verhältnisse revolutionär: Es gibt in der Türkei kein Kurden-, sondern ein Türkenproblem, versichert er, denn schließlich verweigerten die Türken den Kurden seit jeher ihre Rechte und nicht umgekehrt. Zu einem Treffen vor der Parteigründung fanden sich 150 Notabeln von Diyarbakir ein – deutliches Zeichen, welche Hoffnungen die neue Bewegung weckt. Auch Sezgin Tanrikulu, Vizevorsitzender der Anwaltskammer, hat zu der Versammlung aufgerufen. Er erklärt: „Ich gehöre nicht zu dieser Bewegung. Aber bezüglich der kurdischen Fragen sagt diese politische Bewegung viele neue Dinge, und deshalb bin ich dafür, daß sie hier, in Diyarbakir, Politik macht. Denn zur Zeit macht nur der Staat hier Politik.“

Der Staat macht Politik in Diyarbakir. Die Stadt voller Flüchtlinge duckt sich vor Angst. Die Flugzeuge dorthin sind voller blutjunger Rekruten mit rasierten Schädeln, auch sie voller Angst. Der Westen füllt sich mit Kurden, die vor dem Terror geflohen sind. „Hier geht es uns besser, Istanbul ist groß“, sagt ein 18jähriger, der vor kurzem Diyarbakir verlassen hat. „Aber eines Tages werden auch hier die Waffen sprechen. Die Tränen des Hasses werden auch in den Metropolen sein. Denn Kurdistan ist geleert worden.“