■ Eine Trauerrede auf die Demokratische Partei der USA Und ein Hoffnungsschimmer, der für die Zukunft bleibt
: Hirntot seit 1968

Es geschah 1968. Mit dem Tod von zweien seiner großen bewegenden Führer – King und Kennedy –, mit dem verheerendsten Konflikt seit dem Bürgerkrieg und der Wahl von Richard Nixon hatte der amerikanische Liberalismus einen tödlichen Schlag erlitten. Hirntot schleppte er sich noch ein Vierteljahrhundert dahin, bis endlich mit der Wahl von Newt Gingrich und Co. der Exitus proklamiert wurde. Die vorgetäuschte Vitalität, die ständige Verheißung eines bevorstehenden Wiederaufstiegs hatten sich zu einer Last für das Land entwickelt.

Der Zusammenbruch der Demokratischen Partei sollte Anlaß zur Trauer sein: einer Institution, der inzwischen jede Ideologie oder belebende Überzeugung fehlt, einer Partei ohne gemeinsames Ziel und daher ohne Rechtfertigung ihrer Existenz. In den zweihundert Jahren ihrer Geschichte hat sie viel bewegt. Aber in der jüngsten Zeit hat sie zum eigenen Unheil das Rezept ihres Gründers Thomas Jefferson mißachtet, der die Notwendigkeit periodischer Revolutionen für das amerikanische Leben erkannt hatte. Die Partei Roosevelts, Kennedys und Johnsons – der Architekten des modernen Amerika – ließ es zu, daß ihre Kontakte zum Volk und dessen Sorgen verkümmerten, sie verzichtete auf Kühnheit des Denkens und Handelns und begnügte sich mit kaum mehr als der Rolle des Hüters eines bröckelnden Status quo.

In den 27 Jahren seit 1968 haben sich das Land und seine Pobleme stark verändert, aber die demokratischen Hüter des Liberalismus blieben dieselben, ließen sich gar gewinnen von den Begierden ebenjener ökonomischen Interessen, deren Bekämpfung oder doch wenigstens Zügelung sie sich so lange gerühmt hatten. Wie ein Historiker schrieb: Die Nation ist immer in zwei Parteien gespalten – die Partei der Hoffnung und die der Erinnerung. Die Demokraten wurden, als sie ihre traditionelle Rolle aufgaben, zu Anhängern der Partei der Erinnerung – der Mythen des New Deal, der New Frontier und der Great Society –, während sie sich den Interessen der etablierten Ordnung, dem Geld und in geringerem Ausmaß auch den kleinen lautstarken Minderheiten unterwarfen, die zu schaffen sie beigetragen hatten.

Die Demokratische Partei war nicht nur unfähig, auch nur einen einzigen phantasievollen Ansatz zur Auseinandersetzung mit den sich verändernden Problemen des Landes zu entwickeln; sie ignorierte auch die Vorstellungen und Ideen der energischsten und erfindungsreichsten unter ihren Mitgliedern. Obwohl 1968 der Krieg in Vietnam das wichtigste Thema war, rief Robert Kennedy nach der Verlagerung der öffentlichen Gewalt von der Bundesregierung auf die Einzelstaaten („die kleinste Einheit, die dem Umfang des Problems angemessen ist“), forderte „Arbeitsplätze statt Fürsorge“ und sprach sich für einen harten Kurs gegen Aufruhr und Gewalt im Lande aus. Inzwischen hatte Martin Luther King bereits den Übergang vom Apostel der juristischen Gleichberechtigung zum Fürsprecher wirtschaftlicher Gerechtigkeit vollzogen.

In den folgenden Jahren forderten andere Liberale Maßnahmen zur Reform der Regierung und verlangten, die Macht des Geldes aus dem politischen Prozeß zu vertreiben – ihre Forderungen gingen weit über alles hinaus, was die neue republikanische Mehrheit jetzt vorschlägt und hoffentlich auch durchführen wird.

Aber niemand – jedenfalls kein Führer der Demokratischen Partei – hörte zu. Und die Menschen reagierten auf diese Stagnation des Denkens und der Führung, indem sie die Demokraten in den letzten 27 Jahre nur für sechs Jahre ins Weiße Haus ließen, und auch das erst nach den gescheiterten Präsidentschaften von Nixon und Bush. Und als Clinton sein Amt antrat, nostalgisch entschlossen, seine Präsidentschaft auf Trumans fünfzig Jahre altes Programm der allgemeinen Krankenversicherung zu gründen, da wandten sich die Menschen endlich auch von der letzten Bastion der Demokraten ab: dem Kongreß.

Und sie haben es verdient. Wir haben es verdient. Denn auch ich war an den demokratischen Beratungen beteiligt, als einer der Urheber der „Großen Gesellschaft“, als Teilnehmer an der Ausarbeitung der „Neuen Grenze“. Aber schon lange war deutlich geworden, daß historische Ereignisse und der Lauf der Zeit uns über diese Konzepte hinausgeführt hatten – zu ihrer Zeit waren sie durchaus verdienstvoll, aber unserer gegenwärtigen Situation werden sie nicht mehr gerecht. Die Ziele dieser Credos – eine bessere und sinnvollere Existenz – bleiben den amerikanischen Hoffnungen einbeschrieben, aber die Hindernisse haben sich geändert und bedürfen längst einer ganz anderen Art des Angriffs. Und die Partei, die diesen Angriff hätte prägen sollen, scheint jetzt in die historische Erinnerung einzugehen. Dieses Überzeugungsvakuum wird nun gefüllt durch eine plötzlich von neuem Leben erfüllte Republikanische Partei. Sie leidet jedoch unter einem entscheidenden Mangel: Sie ist eine Gefangene der ökonomischen Interessen, die von dem Niedergang der Normen des amerikanischen Lebens und der Auflösung der individuellen Zukunftshoffnungen profitieren. Die Republikaner werden, so ist zu hoffen, viele nützliche Veränderungen in der Regierung und der öffentlichen Politik durchsetzen. Aber für die beiden entscheidenden Themen, die all unsere öffentlichen Diskussionen beseelen sollten, sind sie nicht gerüstet: Einkommen und Ordnung. Ihre Loyalitäten werden es ihnen nicht erlauben, die Ungerechtigkeiten der Einkommensverteilung in Angriff zu nehmen oder die Ursachen von Verbrechen und Gewalt zu bekämpfen. Unglücklicherweise scheinen die Demokraten unter einem ähnlichen Handikap zu leiden, und damit bleibt uns nur noch die Aussicht auf eine neue politische Bewegung jenseits der bestehenden Parteienstruktur. Eine solche Bewegung scheint inzwischen unvermeidlich. Im letzten Präsidentenwahljahr haben Ross Perot und Jerry Brown bewiesen, daß es sehr viele unabhängige Wähler gibt.

Als einzige Frage bleibt, ob eine solche Bewegung auf einer Basis allgemeiner Unzufriedenheit von fortschrittlichen und volksnahen Kräften geführt wird oder ob sie einem Demagogen zum Opfer fällt, der uns auf die Seite der autoritären Rechten zu ziehen sucht. Richard N. Goodwin

Der Autor war Berater der Präsidenten Kennedy und Johnson; aus: „Los Angeles Times“ vom 16. 1. 1995; aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning