856 freischwebende Meter über der Seine

■ In Nord-Frankreich wird heute die längste Schrägseilbrücke der Welt eingeweiht

Paris (taz) – Eine steife, oft stürmische Brise steht über der weiten Seinemündung in der Normandie, die zwei grundverschiedene Regionen voneinander trennt: das hochindustrialisierte Gebiet rund um die Hafenstadt Le Havre im Norden und das ländliche bei den Badeorten Honfleur und Deauville. Ab heute gilt die von der Geographie vorgesehene Trennung nicht mehr, denn da wird der französische Premierminister Balladur die längste Schrägseilbrücke der Welt einweihen.

Die „Pont de Normandie“ soll nicht nur zwei französische Regionen verbinden, sondern langfristig auch den Weg von Nordeuropa nach Spanien und Portugal verkürzen. Wenn die Anschlußautobahnen erst einmal fertig sind, können Autofahrer ohne den Umweg über Paris gen Süden brettern – die 856 freischwebenden Meter der Brücke machen's möglich.

Seit 22 Jahren gärt das Projekt in den Köpfen französischer Planer – es galt nicht nur die nötigen Finanzen zu finden, sondern auch eine Struktur, die den Winden, die oft mit weit über 100 Stundenkilometern über die Seine-Mündung fegen, gewachsen ist. Die Antwort der Ingenieure sind zwei 214 Meter hohe Betonpylonen, die ihrerseits auf 56 unterirdischen Säulen ruhen, die jeweils zwei Meter dick und 60 Meter lang sind. Die Brücke ist mit 184 Stahlseilen an den beiden Pylonen aufgehängt. Wenn es windet, schwingen die Pylone und die Seile mit, wenn sich die Außentemperaturen ändern, verformen sich die tragenden Elemente der „Pont de Normandie“.

Das Bauwerk, dessen nördlicher Pylon mitten in einer Flußmarsch liegt, ist das größte seiner Art – 254 Meter länger, als die zweitgrößte Schrägseilbrücke der Welt, die vor einigen Monaten bei Shanghai eröffnet wurde. Einen weiteren Superlativ verschweigen die Väter des Projektes gern: Das Bauwerk kostete 630 Millionen Francs. Das sind nicht nur umgerechnet 185 Millionen Mark, sondern auch stolze 40 Prozent mehr, als internationale Experten als Höchstpreis veranschlagt hatten. Hinter der Ziffer verbirgt sich eine der größten unstatthaften Geschäftsabsprachen der französischen Geschichte, wie das Satireblatt Canard enchainé enthüllte. Die beiden Baulöwen, „Bouygues“ und „Campenon Bernard“, ansonsten im Konkurrenzkampf, hatten sich für die „Pont de Normandie“ abgesprochen und zwei jeweils exorbitant hohe, aber dennoch identische Kostenvoranschläge (Differenz: 0,004 Prozent) eingereicht. Der dritte geladene Konkurrent lag entschieden über ihrem Angebot. Der Vereinigung der beiden Unternehmen für die Orgie in Beton und Stahl stand damit nichts mehr im Wege. Dorothea Hahn

Foto: ap