Anonymität unter der Erde

Etwa 30.000 BerlinerInnen lassen sich jährlich einäschern / Immer mehr wünschen eine anonyme Urnenbeisetzung / Sterbezahlen gehen zurück  ■ Von Barbara Bollwahn

Nach knapp zwei Stunden bei Temperaturen zwischen 800 und 1.000 Grad ist alles vorbei: Zurück bleiben etwa 3,5 Kilogramm Asche, die durch eine Aschenaufbereitungsmaschine („Knochenmühle“) gedreht und nach dem Abkühlen in eine Urne gefüllt werden. Größere Metallstücke wie künstliche Hüftgelenke werden vom Verbrenner per Hand aussortiert, kleinere Metallstücke mit Magneten aus der Asche herausgezogen. Um Verwechslungen auszuschließen, wird ein feuerresistentes Schamottesteinchen mit einer Registriernummer zu dem Toten in den Ofen gelegt, das dann ebenfalls in die Urne kommt.

Was Mitte des vorigen Jahrhunderts noch heftig diskutiert, Anfang beziehungsweise Mitte dieses Jahrhunderts von der evangelischen und katholischen Kirche erlaubt worden war, wird heutzutage von siebzig Prozent der Verstorbenen gewählt: die Feuerbestattung. 1912 wurde im Wedding das erste Berliner Krematorium gebaut, ein Jahr später das zweite in Treptow, danach kamen Wilmersdorf und Ruhleben hinzu.

Von diesen vier Krematorien sind derzeit jedoch nur Ruhleben und Wedding in Betrieb. Seit Ende der 80er Jahre die Verbrennungsöfen in Wilmersdorf stillgelegt wurden und im Sommer letzten Jahres auch die in Treptow, gibt es einen „Leichentransfer“. Ehemalige Mitarbeiter des Treptower Krematoriums nutzen die Wilmersdorfer Leichenhalle als „Zwischenlager“ für die Verstorbenen, die nicht in Berlin eingeäschert werden können. Diese werden dann von einem Fuhrunternehmen aus Fürstenwalde mit Fahrzeugen abgeholt, die ausschließlich für den Transport von Särgen genutzt werden und zu diesem Zweck mit speziellen Verankerungen ausgestattet sind. Nach Angaben der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz gibt es wöchentlich ein bis drei Transporte nach Dessau und Neubrandenburg. Von den insgesamt etwa 30.000 Einäscherungen pro Jahr in Berlin werden zwei Drittel in der Stadt vorgenommen, die restlichen 10.000 außerhalb.

Seit Jahren sind die Sterbezahlen in Berlin rückläufig (1970 in Westberlin: 40.500, 1993 in Gesamtberlin: 41.000). Anonyme Urnenbestattungen dagegen haben stark zugenommen. Diese gibt es in Berlin erst seit 1976. Ließen damals nur 465 Berliner ihre Asche anonym beisetzen, so waren es 1993 bereits knapp 10.000. „Das ist nicht in unserem Interesse“, so Karin Rubel von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz. In der anonymen Urnenbeisetzung, bei der nur noch der Belegungsplan des Friedhofs verrät, wo der Verstorbene liegt, sieht sie einen „starken Verlust von Traditionen und Familienkultur“. Außerdem seien Grabsteine als „Erinnerungsträger“ auch von „stadtgeschichtlichem Interesse“.

Wer glaubt, daß Einäscherungen billiger als Erdbestattungen sind, irrt. Während eine Bestattung in einer Reihengrabstätte 267 Mark kostet, belaufen sich die Kosten für eine Einäscherung auf 377 Mark.

Der Ostberliner Bestatter Bernd Cornelius ist überzeugt, daß die Hälfte der anonym Bestatteten diese Form wählt, um den Aufwand für die Hinterbliebenen so gering wie möglich zu halten – auch wenn die Ostler bei den Begräbniskosten „von einem Extrem ins andere gefallen sind“ und sich deshalb einige aus Kostengründen dafür entscheiden. Zu DDR-Zeiten habe man für eine Urnengrabstelle in bevorzugter Lage 60 Mark für eine Ruhefrist von zwanzig Jahren bezahlt. Nach der jetzigen Gebührenverordnung zahlt man 53 Mark pro Jahr. Bei den Urnenbestattungen, die schon zu DDR-Zeiten sehr häufig gewesen seien, hätten Kostengründe im Vergleich zu jetzt, wo „jeder gut beraten ist, sich zu Lebzeiten schlau zu machen“, eine geringe Rolle gespielt. Denn die DDR-Regierung habe „großen Wert darauf gelegt, die Preise des Reichsfeuer- und Erdgesetzes von 1936 zu halten“.

Im Gegensatz zu Amerika, wo man die Asche des Verstorbenen mit nach Hause nehmen oder von der Golden-Gate-Brücke aus ins Wasser streuen kann, ist das in Deutschland verboten. Seebeisetzungen sind zwar möglich, aber auch hier wird die Asche nicht in alle Winde gestreut, sondern in einer Pappurne im Meer versenkt. Nur auf speziell dafür vorgesehenen Friedhofsflächen kann die Asche in alle Winde gestreut werden. Es sei auch selten, so die Leiterin des Krematoriums im Wedding, Cornelia Graeser-Bäcker, daß Ringe oder Ketten der Verstorbenen mit verbrannt werden. „Ich habe schon in viele Särge hineingeschaut“, so Graeser-Bäcker, „aber die wenigsten Toten tragen noch ihren Schmuck.“