„Die Russen fürchten uns noch heute“

Die russischen Soldaten haben Grosny noch längst nicht eingenommen / Auf den Höfen spielen Kinder, die tschetschenischen Kämpfer Präsident Dudajews sind zuversichtlich  ■ Aus Grosny Klaus-Helge Donath

Tamara Bielibkina ist verzweifelt. „Wo haben sie sie hingebracht, oder haben sie sie gleich getötet? Sie wissen doch was ... “ Den ganzen Tag hatte die Frau Mitte 40 über das provisorische Büro des Moskauer Menschenrechtsbeauftragten Sergej Kowaljow Nasran versucht, ihren 18jährigen Sohn Aljoscha aus tschetschenischer Gefangenschaft herauszuholen. Für den Austausch schien alles klar, Kontakt zur tschetschenischen Seite sei hergestellt. Und Tschetscheniens Präsident Dschochar Dudajew hatte Rußlands Mütter aufgefordert, ihre Söhne selbst in Empfang zu nehmen. Dann platzte die Meldung herein: Die Russen hätten den Präsidentenpalast eingenommen und auf dem zerbombten Dach ihre Fahne gehißt. „Oh Gott, bin ich etwa zu spät gekommen?“, seufzt Tamara. Am Vortag war sie vom südostrussischen Samara nach Tschetschenien aufgebrochen. Ihr Sohn gehörte zu den 70 Gefangenen des ersten russischen Sturms.

Das Fernsehen berichtet von der Einnahme des Palastes und zeigt eine wilde Schießerei. Aber wo bleibt das russische Banner auf dem tschetschenischen Reichstag? Diesen Triumph hätte sich das russische Militärfernsehen doch nicht nehmen lassen. Ihre Fahne auf dem Symbol des kaukasischen Widerstands. Wieder meldet Moskau das bevorstehende Ende der Kampfhandlungen. Alles unter Kontrolle ...

Am nächsten Morgen sieht es in Grosny etwas anders aus. Die Stadt liegt unter einer weißen Zuckerdecke, Menschen holen in aller Ruhe Eimer voll Wasser aus dem Stausee oberhalb der Stadt. Man hält Markt. Frische Fische, Schweinshaxen, Cola und eingelegte Gurken im Angebot. Noch immer wollen einige die Stadt verlassen, andere ziehen ruhig ihre Kinder auf Schlitten durch die Straßen. Der Stausee ist Umsteigeplatz. Busse und Pkws machen hier halt. Weiter ins Zentrum geht es zu Fuß oder mit den Wagen der tschetschenischen Freischärler. In zwei Kilometer Entfernung stehen russische Einheiten auf einer Anhöhe. Von dort haben sie alles im Visier.

Ismael und Simel bieten einen Lift in ihrem neuen Wolga. Sie räumen die Panzerfaust plus Zubehör vom Rücksitz. Sie sind guter Dinge, ausgeschlafen, wohlgenährt. Und sie haben sich eins geschworen: „Den Russen schenken wir den Sieg nicht.“ Angeblich sei der Bahnhof wieder in ihren Händen.

Simel trägt das grüne Band, Zeichen des heiligen Krieges, um die Stirn. „Sie haben uns gefürchtet und sie fürchten uns noch heute“. Ein ganzes Elite-Bataillon der Marine-Infanteristen wollen sie vorgestern aufgerieben haben. Links und rechts der Straße stehen ausgebrannte Häuser, die unter Artilleriebeschuß lagen. Bodentrupps wagen sich hier nicht her. Am Straßenrand wieder gewöhnlicher Alltag. Marktstände mit Gemüse und Früchten. Auf den Höfen spielen Kinder.

Kurz vor dem Minutgerplatz, einige hundert Meter vom Präsidentenpalast entfernt, werden selbst die Freischärler vorsichtig und suchen hinter einer Mauer Schutz. Sofort sammelt sich ein Trupp Freiwilliger, alle stecken in weißen Schneeanzügen. Auch sie erholt und gelassen. Einige Bewohner huschen über den freien Platz, um zwischen den Ruinen Schutz zu suchen. Keiner weiß, ob sich nicht doch Scharfschützen irgendwo verschanzt haben.

Dudajew, noch Tschetscheniens Präsident, hatte für den 20. Januar den Beginn des „richtigen Krieges“ angekündigt. Die Freischärler nehmen den Fall des Palastes denn auch nicht so wichtig. „Wir haben uns selbst zurückgezogen, das Gebäude war zu sehr zerstört.“ Und die Gefangenen? „Haben wir mitgenommen.“ Einer der Freischärler ist Jurist, der andere Profifußballer. „Wir lassen uns nicht von neuem erniedrigen“, meint er. „Die Russen tun so, als wären sie das Kulturvolk und wir die Wilden“, sagt der Jurist leise und schweift mit dem Arm über die zerbombten Häuserfassaden. „Schau es dir an.“

Mit den Tschetschenen kämpft die Moral. Sie ist ihr stärkster Verbündeter und sie wissen das. Die Russin Tamara Bielibkina kämpft nicht nur um ihren Sohn, sie kämpft auch um den Glauben an die eigenen Leute. „Ich traue den Tschetschenen mehr als unseren.“ Sie wiederholt es an diesem Abend immer wieder. Im Kreiswehramt in Samara gab man ihr keine Auskunft. Sie ist von Pontius zu Pilatus gelaufen und gestrandet. „Das Schicksal der Jungs ist allen egal“, flüstert sie, „die Tschetschenen zeigen sogar mehr Anteilnahme.“ Der Herbergsvater, ein Ingusche, wurde in seinem Leben zweimal von Russen vertrieben. Er beruhigt Tamara. „Die legen keinen um, dein Sohn kommt wieder.“ Wenn die Russen noch einmal ihren Fuß auf kaukasisches Land setzen, „wird der Boden unter ihren Füßen brennen“, meint er.