Sanssouci: Nachschlag
■ Phänomen Grips: Seit 15 Jahren läuft hier vor vollem Haus das 68er-Stück „Eine linke Geschichte“
Ein Phänomen ist das schon: seit 15 Jahren steht „Eine linke Geschichte“ auf dem Grips-Spielplan. Rund 360 Aufführungen hat sie hinter sich und ist damit nach dem Kiez-Klassiker „Linie 1“ die Nummer 2 auf der ewigen Hitliste vom Hansaplatz. Mit der Suche nach künstlerischen Kriterien kommt man diesem Mammuterfolg natürlich nicht bei. Die 68er-Saga ist denkbar einfach gestrickt. Drei Protagonisten der Salonrevoluzzer-Generation werden von den blütenreichen Anfängen bis zum ernüchterten Heute verfolgt, ein großer Schuß Hoffnung für ein besseres Morgen immer inklusive. Und der macht wohl auch den sozialpädagogischen Nutzen der Veranstaltung aus. Hier kann sich der Altlinke an die guten alten Zeiten erinnern, im Geiste Selbstkritik betreiben und gleichzeitig dem halberwachsenen Kind die eigene kämpferische Geschichte vorführen lassen.
Und dann ist da noch der Schluß als Running Gag über die Jahrzehnte. Die letzte Szene spielt immer in der Gegenwart, wird also fast alle Jahre wieder neu geschrieben. Was da mit den Jahren an hoffnungsfrohen Realutopien zusammengekommen ist, böte reichlich Stoff für eine soziologische Diplomarbeit: In der Ursprungsfassung von 1980 wird eine Koalition von Kopf und Bauch angepriesen; theoriefirme Altlinke nebst „SPD-Wichsern“ gemeinsam mit Spontis, Anarchos und bewegten Frauen, auf zur generationenübergreifenden knallbunten Zukunftsliste! 1987 fand die neue alte linke Vision im umtriebigen Mister Gorbatschow Hoffnung. In den reaktionären Neunzigern werden die gutgemeinten Ausblicke allerdings zusehends dünner. Die Fassung von 1990 beschwört in einem Halbsatz nochmals den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, und 1992 sind die gegen den Golfkrieg demonstrierenden Kiddies Hoffnungsträger für eine linke Zukunft. Im Jahre 5 vor der Jahrtausendwende fällt selbst dem Berufsoptimisten Volker Ludwig nichts mehr ein. Das neueste Ende brandmarkt Botho Strauß' deutschnationalen Sündenfall und konstatiert ein wenig nebulös, aber plausibel, daß man mit Glauben im Kapitalismus nicht weiterkommt. Da wird der Dreh zum „unheimlich starken Anfang“, mit dem diese linke Geschichte klassisch dialektisch enden muß, eher zum Spagat mit Sehnenzerrung. Bleibt der Schlußjubel des ausverkauften Hauses, bleibt das Phänomen Grips: Im ewigkeitssüchtigen deutschen Stadttheaterbetrieb interessierte sich außer den Gripslern nie jemand so recht für eine populäre Auseinandersetzung mit der APO-Generation. Das ist der Grund für das Wunder vom Hansaplatz. Gerd Hartmann
Grips Theater, Hansaplatz, Tiergarten
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