Akzeptanzbeschaffung für Biomedizin

Europapolitiker müssen erneut über die Bioethik-Konvention abstimmen  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Zehn Tage vor der Bundestagswahl tat sich in Bonn Erstaunliches: Diejenigen, die sich unermüdlich dafür stark machen, zum Wohle der Menschen und zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland gentechnische Verfahren, Reproduktionsmedizin, Organtransplantationen und andere Errungenschaften der High- Tech-Medizin zu erforschen und zu nutzen, äußerten plötzlich moralische Bedenken. Regierungsparteien und SPD-Opposition begrüßten unisono einen Beschluß der Parlamentarischen Versammlung (PV) des Europarates.

Die hatte am 5. Oktober einstimmig den Entwurf einer „Europäischen Bioethik-Konvention“ zurückgewiesen. Begründung: Teile des Vertragswerkes erfüllen seinen vorgeblichen Zweck nicht, die Würde, Rechte, Integrität und Grundfreiheiten der Menschen bei der Anwendung biomedizinischer Techniken europaweit zu schützen. PV-Ausschüsse müßten das Papier deshalb unbedingt überarbeiten.

Bei diesem Appell von Politikern an Politiker blieb es – ungeachtet der Tatsache, daß dem Straßburger Rückzieher etliche außerparlamentarische Proteste gegen die Bioethik-Konvention vorausgegangen waren. Massive Kritik äußerten vor allem Behindertenorganisationen, Kirchen und eine internationale Bürgerinitiative. Letztere hatte das lange geheimgehaltene Vertragswerk im Frühjahr überhaupt erst öffentlich gemacht.

Doch bis heute haben es die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien unterlassen, ein verbindliches öffentliches Forum zu initiieren zu der Frage, ob eine Bioethik-Konvention überhaupt sinnvoll ist, wessen Interessen sie dienen und wie sie im einzelnen aussehen soll. Allenfalls ein Feigenblatt ist eine Aktion des Bundesjustizministeriums. Im Herbst bat es ausgewählte Verbände, sich schriftlich zu den Artikeln der Bioethik-Richtlinie zu äußern – allerdings ohne zu sagen, was mit diesen Stellungnahmen denn überhaupt passieren soll. Die SPD- Fraktion, angetrieben von ihrem Abgeordneten Robert Antretter, unternahm kurz vor der Bundestagswahl immerhin einen zaghaften Versuch für mehr Transparenz. Sie forderte die Bundesregierung auf, den Konventionstext in den Bundestag zwecks Beratung einzubringen. Der Antrag wurde abgelehnt – und die SPD lehnte sich erst mal zurück. Auf die Idee, die Bioethik-Konvention nach der Wahl erneut im hohen Haus zu thematisieren, kamen die Sozialdemokraten nicht. Und von den Bündnisgrünen, deren Europaparlamentarierin Hiltrud Breyer die Konvention wiederholt als Instrument zur Akzeptanzbeschaffung für Gen- und Reprotechniken entlarvte, hörte man im Bundestag lange gar nichts.

Fleißig war unterdessen der von der Parlamentarischen Vollversammlung des Europarates beauftragte Ausschuß für Wissenschaft und Technologie. In nichtöffentlicher Sitzung überarbeitete er die Konvention. Zum Ergebnis soll die Parlamentarische Vollversammlung am 2. Februar in Straßburg ihr Votum abgeben.

Im neuen Entwurf sind die umstrittensten Artikel unverändert geblieben – jedenfalls in ihrer Substanz. Erlaubt bleibt die Anwendung prädiktiver genetischer Tests „nur zu gesundheitlichen Zwecken oder für wissenschaftliche Forschung“. Bekannt ist: Von den so möglichen Massenscreenings versprechen sich angesichts der laufenden „Entschlüsselung“ des menschlichen Genoms viele Pharmaunternehmen ein großes Geschäft. Doch wessen Gesundheit die Voraussage der genetischen Veranlagung für eine Krankheit dient, das ist eine ethische Frage, die der Konventionstext nicht beantwortet, gleichwohl aber dringend einer gesellschaftlichen Diskussion bedarf. Dies um so mehr, als Ergebnisse genetischer Tests auch an Stellen „außerhalb des gesundheitlichen Bereichs“ mitgeteilt werden dürfen – vorausgesetzt, ein nationales Gesetz läßt dies zu.

Die Forschung an menschlichen Embryonen ist auch nach dem neuen Entwurf zulässig – allerdings nur an solchen, die als „nicht lebensfähig“ eingestuft werden. Was dieser Begriff konkret bedeutet, wer das Recht hat, ihn zu definieren, steht nicht in der Konvention. Und auch die letztlich entscheidende Frage bleibt unbeantwortet: Wie eigentlich soll und kann kontrolliert werden, daß Wissenschaftler in abgeschotteten Labors trotz aller Verbote Forschung an Embryonen betreiben?

Die heftigsten Proteste hatte im vergangenen Jahr Artikel 6 provoziert. Er erlaubte „in Ausnahmefällen“ auch Eingriffe an Kindern und geistig behinderten Menschen – ohne daß eine Einwilligung der Betroffenen und ein therapeutischer Nutzen vorausgesetzt wurden. Die entschärfte Version des Wissenschaftsausschusses sieht so aus: „Eine geschäftsunfähige Person darf sich keiner medizinischen Forschung unterziehen, es sei denn, man erwartet von dieser Forschung einen unmittelbaren und bedeutenden Nutzen für ihre Gesundheit“. Wer ist „man“ und was heißt „erwarten“? Von Politikern und Juristen, die täglich mit Sprache umgehen, darf man präzisere Formulierungen erwarten – insbesondere wenn es um ethische Standards geht.

Sollte die Parlamentarische Vollversammlung die Konvention am 2. Februar erneut zurückweisen, ist dies noch kein Grund zur Entwarnung. Der europäische Demokratiestandard ist nämlich erstaunlich niedrig. Im Juni soll das Ministerkomitee des Europarates endgültig über die Annahme der Konvention entscheiden. Am 27. März trifft sich in Straßburg der mit Ministerialbürokraten und Wissenschaftlern besetzte Lenkungsausschuß für Bioethik, um für das Ministerkomitee einen beschlußfähigen Entwurf vorzubereiten. Dabei ist der Lenkungsausschuß nicht an das Votum der Parlamentarischen Versammlung gebunden.

Angesichts solcher demokratischer Merkwürdigkeiten ist die Notbremse, die Bonner Politiker Ende vergangener Woche angekündigt haben, überfällig. Während der Bündnisgrünen-Abgeordnete Manuel Kiper eine „aktuelle Stunde“ im Bundestag fordert, hat Robert Antretter seine SPD erneut dazu motiviert zu beantragen, daß die Bioethik-Konvention im Bonner Parlament diskutiert wird, bevor das Ministerkomitee endgültig einen Beschluß faßt. Findet der SPD-Antrag, der voraussichtlich am Donnerstag behandelt wird, eine Mehrheit, wäre der Weg frei für die Erörterung in den Ausschüssen und eine öffentliche Anhörung von Verbänden, Wissenschaftlern und Kirchen. Doch das reicht noch nicht aus: Die Volksvertreter müssen sich endlich auch Gedanken darüber machen, wie sie diejenigen an der Entscheidung für oder gegen Erforschung und Einsatz biomedizinischer Techniken ernsthaft beteiligen können, die sie pausenlos beglücken wollen: die Bürger und Bürgerinnen.