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„Nur noch mit kugelsicherer Weste“

Der Kampf zwischen Abtreibungsgegnern und Frauenschützern in Washington findet morgens auf der Straße vor den Kliniken statt / Seit den Morden von Brookline steigt die Spannung  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Samstag, fünf Uhr morgens. Es ist stockdunkel und kalt. Vor dem Weißen Haus wärmen zwei „Secret Service“-Beamte ihre Hände an Kaffeebechern. Zwei Blocks weiter auf der 16. Straße warten schläfrige Taxifahrer vor dem „Capitol Hilton“ auf die ersten Fahrgäste. Nebenan, vor der russischen Botschaft, dösen zwei Wachpolizisten im Auto. Die Menschenmenge auf der gegenüberliegenden Straßenseite interessiert sie kein bißchen. Rund 200 Leute in Winterkleidung drängen sich zu dieser unchristlichen Tageszeit auf dem Bürgersteig, bis die Kälte sie in die Lobby eines Bürohochhauses treibt. Manche sind die Nacht durch aus New York oder Philadelphia angereist. Trotz Mangels an Kaffee und anderen Weckmitteln herrscht fröhliche Betriebsamkeit. Die Stimmung erinnert an einen Skiverein kurz vor Aufbruch in die Berge.

6.15 Uhr. Jetzt sind alle Anwesenden mit grüngelben Armbinden ausgestattet. Susan klopft mit der Faust gegen ihre Brust. Es klingt wie ein dumpfer Hammerschlag. „Hey“, sagt sie, „seit Brookline nur noch mit kugelsicherer Weste.“

6.30 Uhr. Ein junger Mann, flankiert von zwei Frauen mit Funkgeräten und Telefonen, verschafft sich mühsam Gehör inmitten der Menge, die inzwischen den Geräuschpegel einer vollbesetzten Cafeteria erzeugt. „Alle herhören: In den nächsten fünf Minuten brauche ich 120 Leute für drei Kliniken.“ Und tatsächlich sind innerhalb der nächsten fünf Minuten 120 Leute auf Autos verteilt und auf dem Weg. Vorher werden ihnen noch einmal Verhaltensregeln eingeschärft: Absolute Gewaltfreiheit; so wenig verbale Aggression wie möglich; Kooperation, aber keine übermäßigen Freundschaftsbezeugungen für die Polizei. „Viel Glück, und seht zu, daß ihr nicht friert.“

7.00 Uhr. Wayne Codding betritt seine Frauenklinik in Washington, um die ersten Angestellten hereinzulassen. Hier, im „Capitol Women's Center“, werden unter anderem Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Seit ihrer Eröffnung 1985 ist die Klinik deshalb Ziel von Abtreibungsgegnern. Besonders an diesem 21. Januar. Denn am 22. jährt sich zum 22. Mal der Tag, an dem der Oberste Gerichtshof der USA entschieden hat, daß die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch in die Privatsphäre der Frau fällt und somit durch den vierten Zusatz der US-Verfassung geschützt ist. Für die Bewegung der Abtreibungsgegner bedeutet dieses Datum Großkampftag. Für Wayne Codding ebenfalls.

In den ersten Jahren wurde seine Klinik an diesem Tag faktisch stillgelegt. Hunderte von Abtreibungsgegnern blockierten die Straße, ketteten sich mit Kryptonschlössern um den Hals an die Eingänge, drangen in die Klinik ein, um sich dort mit Handschellen aneinander zu binden. Frauen, die auch nur annähernd den Eindruck erweckten, im gebärfähigen Alter zu sein, wurden zwei Häuserblocks entfernt abgefangen und einem „Sidewalk Counselling“, einer „Bürgersteigberatung“ unterzogen – egal, ob sie sich lediglich zu einer Vorsorgeuntersuchung einfanden, in einem benachbarten Gebäude arbeiteten oder tatsächlich einen Termin für eine Abtreibung hatten. Man hielt ihnen kleine Plastikfeten unter die Nase; Männer warfen sich vor ihre Füße und schrien: „Mami, Mami, bring mich nicht um“; man bot ihnen an, das Baby zu adoptieren. Wenn alles keine Wirkung zeigte, kamen die Drohungen: Man werde über das Autokennzeichen ihren Namen ausfindig und den „Babymord“ in ihrer Nachbarschaft, in ihrer Familie, an ihrem Arbeitsplatz, in ihrer Kirchengemeinde publik machen. Wenn die Patientinnen schließlich den Zutritt zur Klinik erkämpft hatten, „dann oft in einem Zustand des Schocks“, sagt Codding. „Ehemänner oder Freunde waren oft außer sich vor Wut, so daß unser Personal sie beruhigen mußte, damit sie nicht auf die Leute draußen losgehen.“

Diese Zeiten sind, zumindest für Wayne Codding und andere Frauenkliniken in Washington, vorbei.

7.15 Uhr. Haupt- und Hintereingang der Klinik sind durch rund 50 Männer und Frauen mit grüngelben Armbändern abgeriegelt. Einige tragen orangefarbene T-Shirts über ihren Anoraks mit der Aufschrift „Clinic Escort“ oder gelbe Plastikschärpen mit dem Aufdruck „Peacekeeper“. Sie alle haben seit fünf Uhr morgens in jenem Bürohauseingang gewartet – mobilisiert von der „Washington Arean Clinic Defense Task Force“ (WACTF). Ihre Aufgabe: Früher aufstehen als die Abtreibungsgegner; Klinikeingänge besetzen, bevor sich „Antis“ anketten; Patientinnen eskortieren, bevor die selbsternannten „Lebensschützer“ sich an ihnen festklammern; Nerven bewahren, wenn Abtreibungsgegner ihnen stundenlang Beschimpfungen oder religiöse Litaneien ins Gesicht schreien.

Die meisten „Klinikverteidiger“ haben Trainingskurse und mehrere Jahre Erfahrung im Umgang mit militanten Abtreibungsgegnern hinter sich. Womit sie keine Erfahrung haben, sind Leute wie John Salvi. Salvi, Abtreibungsgegner und strenggläubiger Katholik, betrat am 30. Dezember letzten Jahres eine Frauenklinik in Brookline, einem Stadtteil von Boston. Mit einem Jagdgewehr eröffnete er das Feuer auf Klinikpersonal und Patientinnen im Wartezimmer. Er tötete die 25jährige Rezeptionistin Shannon Lowney und verletzte drei weitere Menschen. Minuten später tauchte Salvi vor einer anderen Frauenklinik auf, fragte die Sprechstundengehilfin Leanne Nichols gelassen nach dem Namen der Praxis, zog sein Gewehr aus einem Seesack, sagte: „Im Namen Jesus“ – und erschoß Nichols. Salvi wurde einen Tag später in Norfolk/Virginia, zwölf Autostunden von Boston entfernt, festgenommen, nachdem er erneut auf eine Abtreibungsklinik geschossen hatte – dieses Mal ohne jemanden zu treffen. Vor Gericht erklärte der 22jährige, er wolle im Falle eines Schuldspruchs zum Tode verurteilt, im Falle eines Freispruchs katholischer Priester werden. Die Zahl der Mordopfer militanter Abtreibungsgegner ist damit in den letzten beiden Jahren auf fünf gestiegen.

Beide Seiten kennen sich wie verfeindete Nachbarn

8.00 Uhr. Die ersten Abtreibungsgegner tauchen auf. Beide Seiten kennen sich wie verfeindete Nachbarn, die sich zwangsläufig beim Einkaufen über den Weg laufen. Die „Klinikverteidiger“ sind heute in der Übermacht und können es sich eine ebenso gut trainierte wie einstudierte Taktik leisten: Jedem „Anti“ folgen im Abstand von einem halben Meter zwei oder drei „Defenders“ auf Schritt und Tritt. Erstere versuchen, Verfolger im Laufschritt abzuhängen, was für die anwesenden Fernsehteams bizarres Bildmaterial hergibt. Schließlich gehen sie dazu über, nur noch im Flüsterton miteinander zu beratschlagen, ob sich größere Attacken lohnen.

Ein junger schwuler Student hat die undankbare Aufgabe bekommen, „Tiny Dave“, den „kleinen Dave“ aus dem harten Kern der Abtreibungsgegner zu beschatten. Dave ist 1.80 m groß, etwa 150 Kilo schwer, taucht jedes Wochenende als Demonstrant vor Frauenkliniken auf, hat mehrfach WACTF- Mitglieder physisch bedroht und legt einen Missionarseifer an den Tag, der die Geduld seines Gegenspielers arg strapaziert. Sein Monolog beginnt mit einer Verdammung von Gynäkologen, die er mit den Herstellern von „Zyklon B“ gleichsetzt. Es folgt eine Predigt gegen Homosexuelle, die sich „außerhalb der göttlichen Ordnung befinden, sich selbst und die Gesellschaft zerstören“. Der Schlußteil seiner Rede ist der spirituellen Leere und Orientierungslosigkeit der WACTF-Mitglieder gewidmet. „Was würdet ihr denn machen, wenn ihr nicht gegen uns demonstrieren könntet?“ „Ausschlafen, du Spinner.“

8.15 Uhr. Die erste Patientin nähert sich. „Tiny Dave“ und seine Mitstreiter rennen auf die junge Frau zu, doch die Klinikeskorten haben sie bereits eingekreist und bahnen ihr den Weg. „Bring dein Baby nicht um“, schreien die „Antis“ und versuchen, Flugblätter mit Photos von Embryos an die Frau zu bringen, die aber wütend abwinkt. Die Menschenkette öffnet sich kurz, um die Patientin durchzulassen. Es kommt zu Rangeleien mit Dave und Konsorten. Die Polizisten am Straßenrand lassen das Ganze geschehen und fordern schließlich auf, den Bürgersteig wieder frei zu machen.

9.12 Uhr. Wayne Codding hält seit über einer Stunde Wache am Hintereingang seiner Klinik, um Patientinnen einzulassen, die sich nicht der Tortur am Haupteingang aussetzen wollen. Ein junger Abtreibungsgegner, im Jargon der WACTF nur „Eric, der Ober- Anti“ genannt, steht etwa zwei Meter entfernt durch eine Menschenkette vom Eingang getrennt und beschimpft die Klinikinhaber seit zwanzig Minuten durch ein Megaphon als „Frauenschänder“, „Babykiller“ und „Drogendealer“. Codding weiß, daß er auch nach diesem Arbeitstag keine Ruhe haben wird. Abtreibungsgegner demonstrieren derzeit vor seinem Haus in Virginia. Sie haben in der Nachbarschaft Steckbriefe des „Kindermörders“ mit Namen und Adresse ausgehängt und verfolgen ihn zuweilen in Restaurants und Supermärkte, um ihn dort laut als „Babykiller“ zu beschimpfen. Tausende von Dollar mußte er in Sicherheitsanlagen seiner Klinik investieren. Sein Haus wird durch eine private Wachfirma geschützt. „Angst?“ sagt er nach längerer Überlegung, „Angst habe ich eigentlich nicht. Aber Sie glauben gar nicht, wie anstrengend und aufreibend das ist.“

Codding ist einer der Klinikbetreiber, die ihre Dankbarkeit für die „clinic defence teams“ öffentlich zeigen. Gestern war er vor laufenden Kameras bei einer Mahnwache vor dem Bundesjustizministerium aufgetreten, um von der US-Regierung mehr und effektiveren Polizeischutz zu fordern. An seiner Seite standen eine protestantische Pfarrerin und eine Rabbinerin – Sprecherinnen der „Religious Coalition For Reproductive Choice“, eines Zusammenschlusses von 37 christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften, die sich ausdrücklich für das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch aussprechen. „Religiöse Führer, die Abtreibung mit Holocaust, Gynäkologen mit Nazis und Anti-Abtreibungsterroristen mit Freiheitskämpfern vergleichen, überschreiten die Grenze zwischen leidenschaftlicher Diskussion und Anstachelung zur Gewalt“, heißt es in einem offenen Brief der Organisation. Adressat dieser Vorwürfe ist unter anderem Papst Johannes Paul II., der bei seinem letzten USA-Besuch anläßlich des Weltjugendtages in Denver Abtreibung mit dem Genozid an bosnischen Muslimen gleichsetzte und den USA eine „neue Kultur des Todes“ bescheinigte.

10.12 Uhr. Codding hat keine weiteren Patientinnen. Er öffnet den Haupteingang, sichtlich aufgelockert, bedankt sich bei frierenden Polizisten und frierenden WACTF-Mitgliedern. Letztere feiern einen vollen Erfolg. Alle elf Frauenkliniken im Einzugsgebiet von Washington, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, wurden an diesem Samstag erfolgreich „verteidigt“.

10.30 Uhr. Die Abtreibungsgegner ziehen weiter zum Weißen Haus, um für den Sünder Bill Clinton zu beten. Morgen findet ihr alljährlicher „Marsch für das Leben“ in Washington statt. Angesichts des Schocks durch die Morde in Boston, der auch moderatere Teile der Anti-Abtreibungsbewegung durchzogen hat, ist das Ausmaß der Beteiligung ungewiß. Die katholischen Kardinäle haben vorerst zu einem „Protestmoratorium“ vor Kliniken aufgerufen. Eine anonyme „Army of God“ vertreibt unterdessen ein Handbuch mit Anleitungen zum Bombenbasteln. Die „American Coalition of Life Activists“ hat die Veröffentlichung einer Namens- und Adressenliste der „Deadly Dozen“ angekündigt, zwölf ausgewählten Gynäkologen, die Abtreibungen durchführen.

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