Korruption und Unübersichtlichkeit

In demokratischen Systemen wird Korruption durch Gewaltenteilung und Machtwechsel verhindert und bekämpft, so heißt es. Doch vielleicht ist Korruption ein integrierter Bestandteil der Demokratie?  ■ Von Werner Raith

Wo immer in deutschen Landen über Korruption geredet wird, gesellt sich fast automatisch eine Art Zwillingskategorie zur Bestechlichkeit und Bestechung hinzu: die sogenannten „Selbstheilungskräfte der Demokratie“, sozusagen ein guter Abel zum bösen Kain. In Overbeck/Bethusy-Hucs Ausführungen zum „Denksystem Korruption“ wird der nahezu naturgesetzlich vorgezeichnete Gang des Subsystems Korruption von den ersten Bestechungen bis zum Verschlingen immer größerer Summen vorgestellt – bis sich das System dann in einem gigantischen Kollaps selbst erledigt.

Die Geschichte scheint dem recht zu geben: vom Untergang ägyptischer Dynastien über die Agonie des spätrömischen Reichs und dem Kollaps feudalistischer Imperien im 17. und 18. Jahrhundert bis hin zur Implosion des Realsozialismus reichen die Beispiele, wo der Verfall durch eine immer ausgedehntere Korruption gekennzeichnet war. Und diese war dann am Ende auch der Auslöser für Revolutionen oder jedenfalls der markanten Ablösung ganzer Herrscherschichten.

Vor solchen Entwicklungen wähnen sich moderne demokratische Systeme gefeit, da hier erstens ein Wechsel in den Ämtern zumindest theoretisch möglich ist und damit auch eine Art Neuanfang mit unkorrupten Politikern. Zweitens glauben sich Demokratien in der Regel auch mit weiteren, sozusagen metakonstitutionellen Instanzen ausgestattet, die Entartungen in der Legislative, Exekutive, Judikative rechtzeitig denunzieren oder gar durch mächtigen Druck der Bürger beenden.

Dennoch sind Zweifel angebracht, ob derlei Selbstheilungskräfte nicht nur ein allenfalls theoretisches Heilmittel sind, in der Praxis der Massendemokratien aber kaum mehr greifen. Sicher: In Kleinstaaten wie dem antiken Athen oder im republikanischen Rom konnte man dutzenderlei Entartungshemmer stets relativ schnell aktivieren – der beherrschte Raum war übersichtlich, die Zahl der freien Bürger gering.

Doch in einer Massendemokratie sind Entscheidungen zwangsweise langsam, sind die Möglichkeiten, Deviationen zu verbergen, schier unerschöpflich – also schon von daher nur selten zu einer Zeit anzugreifen, wo man noch etwas retten kann. Meist wird die Sache erst publik, wenn die Betreffenden ihr Schäfchen längst im trockenen haben. Und auch die Kontrollorgane, auf die die „Selbstheilungs“- Verfechter verweisen, erweisen sich bei näherem Hinsehen nicht mehr als besonders effektiv.

Doch vielleicht wäre das alles irgendwie zu beheben, durch mehr Kontrolle, den Aufbau von mehr Zivilcourage bei den Bürgern. Doch mich beschleicht seit einigen Jahren ein viel beunruhigenderes Gefühl: Wie, wenn Korruption nicht eine Deviation wäre, nicht das Werk irgendwelch vereinzelter „schwarzer Schafe“, sondern ein integrierter und nicht absetzbarer Bestandteil der Demokratie?

Das klingt wie eine Mischung aus Resignation und Reinwäscherei, soll es aber gar nicht sein, im Gegenteil. Nur: Wenn wir etwas ändern wollen an dieser Situation, dann müssen wir uns zuallerst klarmachen, ob ein Massenlenkungssystem ohne Korruption überhaupt funktionieren könnte.

Korruption entsteht prinzipiell auf zwei Schienen. Die eine stellt tatsächlich eine offensichtliche Deviation dar: In einem ansonsten korrekten, vom Volk über seine Repräsentanten erwählten und gutgeheißenen System versuchen bestimmte Personen, sich Vorteile zu verschaffen, indem sie Entscheidungsträger zu sachfremden, ihnen nützlichen Entscheidungen anhalten und dafür bezahlen. Diese Version könnte, wiederum theoretisch, durch verschärfte Kontrollen, durch eine effiziente Polizei und Justiz und durch Gesetze, die derlei dann unattraktiv machen, blockiert werden.

Weitaus schwieriger zu bewerten ist der andere Weg, auf dem Korruption geschieht. Diese zweite Art entsteht vor allem nach regulären Wechseln in der demokratischen Herrschaft. Neue Regierende bringen in der Regel Leute ihres Vertrauens mit – nicht nur, um ihre eigene Klientel zu bedienen, sondern vor allem, um das von ihnen versprochene, zur vorigen Administration alternative Progamm mit den geeignetsten Leuten zu realisieren. Damit sind für viele mit dem Staat verbundene Geschäfte die bisherigen Gesprächspartner perdu.

Das aber hat auf der anderen, der bisher Begünstigten Seite mächtige Auswirkungen: Sie müssen nun nicht nur mit einem empfindlichen Einkommensverlust rechnen, sondern nicht selten auch mit der Existenzgefährdung. Nicht umsonst hat einer der schlauesten Füchse der deutschen Politik, Herbert Wehner, bei der Regierungsübernahme durch die linksliberale Koalition 1969 dafür gesorgt, daß der Wechsel nicht allzu traumatisch wird. Denn ist er traumatisch, sehen viele auch der bisher „sauberen“ Unternehmer nur noch die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Bestechung über Wasser zu halten. Tatsächlich sind gerade jene Länder, in denen demokratische Auswechselungen der Regierungsspitzen und ihres jeweiligen Gefolges besonders häufig waren, inzwischen als die allerkorruptesten erkannt worden: siehe Italien. Die Unternehmerschaft hatte sich angesichts der dauernden Wechsel schlichtweg darauf eingestellt, jedem „Neuen“ einfach Geld zuzustecken, und so lief zumindest die Wirtschaft ungeachtet der ständigen Regentenaustäusche ungebremst und „gut geschmiert“ weiter.

Das, was die Tendenz zum Schmieren aus welchem Grunde auch immer gerade in den Massendemokratien so gefährlich macht, ist die Tatsache, daß sie einem Grundbedürfnis just jener entgegenkommt, die als Mittler zwischen dem Volk und der Exekutive fungieren: vor allem den Parteien, aber auch Gewerkschaften, Presseorganen und so weiter. Sie nämlich brauchen aus den unterschiedlichsten Gründen immer mehr Geld.

Die Parteien, weil sie nur als Massenorganisationen überleben können, daher aber immer mehr um ebendieselbe Klientel ringen wie die Konkurrenz und so immense Summen ausgeben müssen, um sich in Wahlkampagnen und in der Imagebildung bei einem nur marginal unterschiedlichen Programm von den anderen hervorzuheben. Die Presse, weil sie unentwegt modernisieren muß, um gegen die Konkurrenz (auch der anderen Medientypen) zu bestehen; die Gewerkschaften, weil sie nur mit einem satten Kapitalpolster glaubwürdig Streiks und Kampfmaßnahmen androhen können.

Hier entwickelt sich ein Sog, der am Ende dann immer untrennbarer zum System dazugehört. Was bedeutet, daß – wie Overbeck/ Bethusy-Huc beschreiben – das System in dem Moment zusammenbricht, wo nichts mehr zu verteilen ist, keine zusätzlichen Ressourcen als Schmiermittel mehr vergeben werden können: Selbstheilungsmittel stehen da nicht mehr zur Verfügung.

Oder, die Alternative, daß man sich daranmachen muß, „Demokratie“ neu und weitgehend anders zu definieren als bisher. Italien ist wiederum das Beispiel dafür – der derzeitige Kampf um eine neue, ganz andere Regierung ist nichts anderes als der Beginn einer Neudefinition von Demokratie. Wir sollten da ganz genau zusehen.